Buchenwald

„Doch das Lebenskarussell war nicht aufzuhalten, es drehte sich weiter, immer weiter.“

Alexander M. – eine Biographie zwischen Konzentrationslager, Speziallager und Gulag

Schwarz-Weiß-Porträt Alexander Agafonow
Alexander Agafonow im Jahr 2000.
©Fotograf: unbekannt. NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Das Leben von Alexander Michailowitsch Agafonow glich nicht nur einem Roman, er hat seinen Lebensbericht auch 1993 als spannendes Buch unter dem Titel „Erinnerungen eines notorischen Deserteurs“ auf Deutsch veröffentlicht.1 30 Jahre später soll hier ein erneuter Blick auf diese wechselvolle Lebensgeschichte geworfen werden, insbesondere auf die schwierige Rückkehr des ehemaligen Buchenwald-Häftlings in die Sowjetunion. Dieser Teil seiner Geschichte nimmt in seinem Buch nur einen kurzen Abschnitt ein. Das Vorhaben, ein zweites Buch über seine Verfolgung durch sowjetische Behörden und schließlich seine Haft im Gulag zu schreiben, konnte Alexander Agafonow nicht mehr verwirklichen. Der folgende Beitrag kann ebenfalls nur wieder auf dieses Desiderat hinweisen. Auch nach Auswertung der hier vorhandenen Quellen, Agafonows Erinnerungen, die sowjetischen Untersuchungsakten, Erinnerungen ehemaliger Speziallagerinsassen an ihn, bleibt noch vieles im Unklaren.2 An einigen Stellen seiner Autobiographie wird deutlich, wie es ihm immer wieder gelang, sich in einer aktiven Rolle darzustellen – trotz der für ihn belastenden und unerwarteten erneuten Verfolgung nach seiner Befreiung aus dem nationalsozialistischen Konzentrationslager. Diesen Formen der Selbstbehauptung wird im Folgenden an verschiedenen Beispielen, aus unterschiedlichen Perspektiven, nachgespürt.

Alexander Agafonow wurde 1920 auf der Krim in der Sowjetrepublik Ukraine geboren. Seine Eltern hatten sich in einem Lazarett in Jalta kennengelernt, wo seine Mutter als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg Verwundete versorgte, darunter auch Alexanders Vater Michail Glantzew. Glantzew hatte als Offizier der Wrangel-Armee im russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki gekämpft, die Eltern emigrierten nach Belgrad. Alexander wuchs zunächst bei seiner Großmutter in Charkiw auf und wurde erst als siebenjähriger Junge nach Belgrad geschickt. Nach Abschluss des russisch-serbischen Gymnasiums in Belgrad begann er ein Medizinstudium. Er sympathisierte mit der Gewerkschaft und der kommunistischen Partei und musste die Universität nach der Teilnahme an einer Demonstration verlassen. Er besuchte daraufhin in Belgrad die Offiziersschule.

Zwei ältere Männer (Werenitsch und Agafonow) vor einem Zug im Rahmen eines Besuchsprogramms für ehemalige Zwangsarbeiter.
Ortsbesichtigung am Bahnhof Köln-Eifeltor im Rahmen des Besuchsprogramms für ehemalige
Zwangsarbeiter im Jahr 1998. V.l.n.r.: Iwan Werenitsch; Alexander Agafonow, beides ehemalige Häftlinge der SS-Eisenbahn-Baubrigade.
©NS-Dokumentationszentrum, Köln

Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien im April 1941 wurde Alexander Agafonow mit mehr als 200.000 anderen jugoslawischen Soldaten gefangen genommen. Die Bedingungen in dem 90 Kilometer westlich von Belgrad gelegenen Kriegsgefangenen-Durchgangslager Sabas / Schabatz in Serbien waren entsetzlich. Die Gefangenen wurden nicht einmal mit dem Notwendigsten, mit Wasser, versorgt. Nach mehreren Wochen wurde Agafonow mit Tausenden Mitgefangenen in das Stalag XII-D bei Trier gebracht. Insgesamt waren in diesem Stammlager etwa 200.000 französische, belgische, sowjetische und polnische Kriegsgefangene. Dabei unterschieden sich die Bedingungen für die westeuropäischen und die sowjetischen, wie auch die serbischen Kriegsgefangenen, die in einem mit Elektrozaun gesondert abgetrennten Bereich untergebracht waren, entsprechend der rassistischen NS-Ideologie deutlich. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 20. Juni 1941 wurde Agafonow gemeinsam mit anderen serbischen wie auch sowjetischen Offiziersschülern, die als besonders gefährlich galten, in ein Straflager der Wehrmacht (XII-F) im besetzten Lothringen (Saargemünd) verbracht. Agafonow wurde in einem Dorf als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt. Mit der Hilfe einer Gruppe jugendlicher Franzosen gelang es ihm zu fliehen. Er kam nach Paris, wo er sich der französischen Résistance anschloss. Unter einem neuen Namen arbeitete er in einem Metallbetrieb, wo er Flugblätter verteilte. Schließlich wurde er im Auftrag der kommunistischen Partei nach Berlin abgeordnet, wo er sich an der Sabotage der deutschen Rüstungsindustrie beteiligen sollte. Die Aktion misslang, Agafonow wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Es gelang der Widerstandsgruppe, ihn zu befreien, doch 1943 nahmen ihn die Deutschen erneut in Paris fest und brachten ihn ins Konzentrationslager Buchenwald, wo er unter dem Namen seines Vaters, Glantzew, registriert wurde. Im Herbst 1944 mit der SS-Eisenbahnbaubrigade 6 nach Köln geschickt, gelangte er in eines der etwa 139 Außenlager des KZ Buchenwald. Von dort gelang ihm im November 1944 erneut die Flucht. Die letzten Kriegsmonate verbrachte Agafonow mit einer kleinen bewaffneten Gruppe entflohener junger Sowjetbürger erst in Köln, zuletzt bei Koblenz am Rhein.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam Alexander Agafonow in ein Lager für sogenannte Displaced Persons in Limburg. Ausgestattet mit der sowjetischen wie mit der jugoslawischen Staatsbürgerschaft plante er, in die Sowjetunion zurückzukehren. Mit anderen sowjetischen Repatrianten in Marsch gesetzt, erreichte seine Einheit den kleinen Ort Dobra östlich von Dresden. Agafonow sollte mit anderen die Rückkehr der sowjetischen Soldaten koordinieren und wurde im „Stab“ eingesetzt: „Die Aufgabe lautet[e], das Bataillon zu führen, Listen aufzustellen, Verpflegung zu verteilen, für Ordnung zu sorgen. […] Soskow, der das Bataillon anführende Leutnant, forderte allerhöchste Wachsamkeit. Wovor hatten wir uns jetzt noch zu fürchten?“3 Den Repatrianten begegnete die sowjetische Führung mit Misstrauen. Eine erhöhte Wachsamkeit wurde daher nicht nur gegenüber der deutschen Bevölkerung eingefordert, sondern auch gegenüber den eigenen Leuten, die sich als vermeintliche oder tatsächliche ehemalige Kollaborateure der Deutschen in den Lagern verstecken könnten. In einem Bericht zitierte Agafonow den Leutnant wie folgt: „Den Deutschen ist nicht zu trauen. Sie könnten sich für die Niederlage rächen. Außerdem laufen alle möglichen Agenten herum und agitieren, dass man nicht zurückkehren sollte […] Es liefen Gerüchte um, durch unsere Lager gehe ein ‚Sonderbevollmächtigter‘, sammle Aussagen über frühere Dorfälteste, über Hilfspolizisten der deutschen Besatzer, über Feinde und Verräter. […] Damit nicht unter Euch Getarnte zu uns durchsickern, in die Union. Beim geringsten Verdacht – Meldung machen!“4 Die Aussage Agafonows, es seien „weder Agitatoren noch Spione zu sehen“5, wurde ihm schließlich als mangelnde Wachsamkeit ausgelegt, er geriet selbst unter Verdacht. Agafonow versuchte vergeblich, die falsche Anschuldigung zu entkräften. Das Militär übergab ihn an die Smersch, die Gegenspionageabteilung der sowjetischen Armee, die am Stadtrand von Dresden ein Haus bezogen hatte.

Ausführlich schilderte Agafonow in seinen Erinnerungen die Verhöre durch die Smersch, die er als „Gespräche“ bezeichnete, da keine „formellen Protokolle“ geführt worden seien. Dabei stellte sich Agafonow in der Rückschau als Agierender, nicht als Reagierender dar: „Ich erzählte kurz meine Biographie.“6 Von besonderem Interesse für die Vernehmer seien seine Beziehungen zu der Unterabteilung „French Section“ des britischen Intelligence Service gewesen sowie zur Widerstandsbewegung im Konzentrationslager Buchenwald. Die Smersch in Dresden überwies seinen Fall an die höhergestellte Instanz. Daher wurde Agafonow an die übergeordnete Smersch-Zentrale der 8. Garde-Armee in Weimar übergeben.

Schwarz-Weiß-Foto von Agafonow im ehemaligen Gestapo-Gefängnis Marstall, vor einer geöffneten Tür stehend
Alexander Agafonow im ehemaligen Gestapo-Gefängnis Marstall in Weimar.
©NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

In Weimar wurde Agafonow im Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes im Keller des Marstalls gefangen gehalten, jedoch nicht verurteilt. Bereits bei seiner Einlieferung verdeutlichte ihm der Vernehmer der Smersch, dass er seine Antworten im Dresdner Verhör für „Schwindel“ hielt: „Eine hochinteressante Geschichte! Und sie haben gedacht, wir würden das glauben? Gut und passend erfunden, aber Schwindel. Dachten Sie vielleicht, wir würden Sie mit Orden behängen? […] Wir werden Sie dagegen zunächst einmal in den Keller stecken! (Jene Bewegung mit dem Daumen abwärts, mit der im alten Rom der Tod des besiegten Gladiators gefordert wurde).“ Die gegen ihn gerichtete Spionage-Anschuldigung betraf drei unterschiedliche Aspekte: Zum einen der Vorwurf der Zusammenarbeit der Untergrundorganisation in Buchenwald mit der Gestapo, zweitens eine vermeintliche Zusammenarbeit mit den englischen und französischen Geheimdiensten während seiner Tätigkeit in der Résistance, der dritte Vorwurf schließlich betraf seine Identität: „Saatsadse [der sowjetische Vernehmer] äußerte den Verdacht, ich sei gar nicht Agafonow, sondern ein Agent, der dessen Namen übernommen habe: Feindliche Agenten benutzen oft solche Tricks!“7

Bei seiner Schilderung der Verhörsituation setzte Agafonow der Situation des Ausgeliefertseins sein individuelles kulturelles Kapital entgegen – er beschrieb das Misstrauen, das seine Herkunft als sowjetisch-jugoslawischer Staatsbürger und seine Sprachkenntnisse bei dem Vernehmer hervorriefen, erinnerte sich an die umfangreiche Bibliothek seines Großvaters und die Forschungsleistungen seines Vaters für die sowjetische chemische Wissenschaft. Trotz der aussichtslosen Lage konnte er so eine aktive Position einnehmen.

Aus dieser ausweglosen Situation versuchte sich Agafonow durch eine aktive Vorwärtsverteidigung zu retten: Er behauptete entgegen der Wahrheit eine angebliche Spionagetätigkeit für den englischen Geheimdienst, woraufhin er in die Fänge der deutschen Abwehr geraten sei; nach der Befreiung aus dem KZ Buchenwald habe er vor der Wahl gestanden, entweder erneut in britische Dienste zu treten oder in die sowjetische Zone zu fliehen. In seinen Erinnerungen betonte er dabei die Bedeutung der subjektiven, erzählten Wahrheit, die der objektiven Wahrheit überlegen sei: „Bei meinen Antworten spulte ich einen ganzen Märchenroman ab. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Denn hier wird die Erfindung höher bewertet als die schlichte Wahrheit. […] Bei der Smersch liebt man Abenteuerromane sehr! Besonders solche von Spionen!“8 Um der Erwartung seines Gegenübers zu entsprechen, passte sich Agafonow an die Kategorien der Verfolgung an.

Welchen Nutzen Agafonows Geständnis hatte, ist schwer zu beurteilen. Der Geheimdienst wies ihn in das auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald gerade neu eingerichtete sowjetische Speziallager Nr. 2. Dort setzte ihn die sowjetische Lagerleitung als Leiter der inneren Lagerverwaltung ein. In der Zwitterrolle eines Insassen, der gleichzeitig Teil der Organisation des Lagers war, betonte Agafonow in der Rückschau seine Handlungsmöglichkeiten und stellte sich als Agierenden, nicht als einen seinem Schicksal Ausgelieferten dar: Der im Unterschied zu dem sowjetischen Kommandanten des Lagers fließend Deutsch sprechende Agafonow unternahm unter Bewachung sowjetischer Soldaten Fahrten in die nähere Umgebung Buchenwalds, um Nahrungsmittel, aber auch medizinische Instrumente, Arzneimittel und Musikinstrumente zu requirieren: „Ich begann, in Begleitung irgendeines Sergeanten mit einem Traktor samt Anhänger durch die umliegenden thüringischen Dörfer zu fahren und das Lager mit der notwendigen Menge an Kartoffeln und anderen Lebensmitteln zu versorgen.“9

Handschriftliche Nachricht des Insassen Karl Naubert, die dieser aus dem Lager schmuggeln konnte. Auch der Name Alexanders Agafonows taucht darin auf.
[Liebste Trudel! A[lex] braucht 1 x Stoff für 1 Uniformstück und 3 x Futter. Hilf ihm bitte irgendwie, es wird schon gehen. Mir geht es nach wie vor gut. Wir warten von Tag zu Tag. Halt Du mir durch und bleib gesund, es muss bald der Tag kommen. Gib bitte kurz Nachricht, was du über uns hier weißt. Gib auch bitte mit, was möglich ist. 1 Paar Strümpfe dazu. Viele Grüsse und Küsse für Dich und die Kinder, -besonders Helga- Euer Carli]
©Privatbesitz Heidi Schöttle

Agafonows Darstellung wird auch durch eine primäre Quelle aus dem Speziallager gestützt: Mehrfach taucht sein Name in Briefen auf, die der Insasse Karl Naubert, Inhaber einer Mützenfabrik in Erfurt, 1945 bis 1947 heimlich aus dem Speziallager schmuggeln konnte. Agafonow war der Mittelsmann, der aus Erfurt Stoffe für den Bedarf des Lagers nach Buchenwald brachte, aber auch aus dem Lager Nachrichten überbringen konnte. Als Handwerker und durch die Vermittlung von im Lager benötigten Stoffen hatte der Internierte Karl Naubert einige Vergünstigungen und konnte sich freier bewegen als andere. Mehrfach konnte er bis zur Jahreswende 1945/46 in Begleitung von Agafonow auch seine Familie in Erfurt kurz aufsuchen. Damit gehörte er zu den wenigen privilegierten Häftlingen. Allerdings wurden diese Vergünstigungen mit der zunehmenden Abschottung des Speziallagers ab Frühjahr 1946 immer mehr eingeschränkt.

Im Lager gründete Alexander Agafonow im Herbst 1945 eine „Sport- und Spielgruppe“ aus Jugendlichen, viele von ihnen aus Altenburg. Die Gruppe führte Lieder, Sketche und Akrobatik in der ehemaligen Kinobaracke des KZ auf, zunächst für die sowjetischen Soldaten, später für einige der Mitinsassen. Die schließlich mit Jahresbeginn 1946 um Theater- und Konzertaufführungen erweiterte, mit dem russischen Begriff bezeichnete „Kultura“ war ein seltenes kulturelles Angebot für die Speziallager-Insassen, die es in ähnlicher Weise auch in anderen Speziallagern gab. Agafonow gelang es, aus den umliegenden Orten Musikinstrumente und Requisiten zu beschaffen und inhaftierte Musiker:innen unter Bewachung ihre Instrumente aus ihren Wohnungen abholen zu lassen. Auch hierbei wird erneut der Handlungsspielraum des inhaftierten Stabsleiters deutlich, dessen organisatorische Fähigkeiten die Lagerverwaltung einsetzte. Zum Jahresende 1946 wurde der Kulturbetrieb allerdings eingestellt, da einige Akteure aus dem Lager geflohen waren.

Polizeifotos vom Profil Agafonows und von vorne
Alexander Agafonow als Gefangener der sowjetischen Geheimpolizei, 1949.
©Archiv des FSB, Moskau

Im Frühjahr 1946 nahm der Vertreter des sowjetischen Geheimdienstes innerhalb des Speziallagers Agafonow erneut fest und befragte ihn in einer Haftzelle im ehemaligen Torgebäude. In seinem Erinnerungsbericht beschrieb Agafonow dies als Folge einer persönlichen Intrige gegen ihn. Schließlich wurde er im Sommer 1946 in die Sowjetunion transportiert. Laut seiner im Russischen Militärarchiv erhaltenen Gefangenenakte musste er daraufhin in der Uchtinsker Region in der autonomen Sowjetrepublik Komi arbeiten, allerdings nicht als verurteilter Häftling, sondern als Zwangsverschickter.10 Im Winter, so schrieb er in seinen Erinnerungen, arbeitete er ohne Filzstiefel und Wattejacken, da die Lieferung ausstand. In dem Uchtinsker Lagerkomplex, der zur Erkundung und Förderung von Erdöl und Radium sowie zum Bau von Infrastruktur eingerichtet worden war, wurden nach Angaben der Organisation Memorial im Jahr 1949 mindestens 35.000 Insassen festgehalten. Neben den verurteilten Häftlingen arbeiteten in den Betrieben unzählige Zwangsangesiedelte wie Agafonow, die ihren Ansiedlungsort und Arbeitsplatz nicht verlassen durften.11

Am 17. Mai 1949 wurde er im Zuge der Verhaftungswelle nach 1948 in der Sowjetunion, die sich vielfach gegen Repatrianten richtete, zur Untersuchungshaft in das Gefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) in Syktywkar in der Komi ASSR gebracht. Von dort verlegte man ihn im Oktober 1949 schließlich in das Lefortowo-Gefängnis nach Moskau, wo ihn ein Sondergericht beim Ministerium für Staatssicherheit (OSO MGB SSR) am 27. Mai 1950 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilte. Dabei wurde nur die Untersuchungshaft seit dem Mai 1949 angerechnet, nicht die Gefangenschaft seit 1945.12 Die Staatssicherheit verurteilte ihn nach dem Paragraphen SOE als „sozial gefährliches Element“, eine im sowjetischen Strafrechtskodex vor allem für außergerichtliche Repressionsmaßnahmen gegen politische Gefangene eingesetzte Strafnorm. Aus der Haft richtete Agafonow ein Gnadengesuch an den Generalstaatsanwalt und bat um eine Überprüfung der Akte. Der Bitte wurde nicht entsprochen.13 In dem Gnadengesuch versuchte er, den ihm entgegengebrachten Vorwurf der Illoyalität zu entkräften: So bezog er sich in dem Schreiben, das er in dem Lager Sytschewka in der autonomen Komi-Republik im September 1950 auf grobem Papier aufsetzte, ganz auf die Frage nach seiner Staatsbürgerschaft: Er sei als Kind aus der Sowjetunion ausgereist – aus von ihm nicht zu verantwortenden Umständen. Dabei sei ihm eine ausländische Staatsangehörigkeit gegen seinen Willen zuerkannt worden. Er beendete sein Gesuch mit einem leidenschaftlichen Plädoyer als Sowjetbürger: Seine einzige und echte Heimat sei die Sowjetunion, auf die er „nichts als stolz [sei], [er sei stolz] auf das Land, auf das Volk, auf die Armee, auf den Sieg“, es möge seine frühere Zugehörigkeit „rehabilitiert“ werden und seine sowjetische Staatsangehörigkeit wiederhergestellt werden.14

Wie reagierten die sowjetischen Geheimdienst-Behörden? Die Problematik der Staatsangehörigkeit warf für die Lagerverwaltung im Ustwymsker ITL – einem zur Holzgewinnung eingerichteten Lagerkomplex mit über 20.000 Insassen, ebenfalls in der Komi ASSR – vor allem bürokratische Fragen auf: „Wir bitten mitzuteilen, als Angehöriger welchen Staates Häftling Agafonow zu gelten hat“, erkundigte sich die Lagerverwaltung im April 1951 beim MGB in Moskau.15 Die Antwort bezog sich dann nicht auf Agafonows gegenwärtigen Status: Es handle sich bei ihm um einen „ehemaligen jugoslawischen Staatsbürger“.16 Nach Stalins Tod wurde Alexander Agafonow am 28. März 1953 vorfristig entlassen, er konnte allerdings erst über ein Jahr später die Republik Komi verlassen und zu Angehörigen in das Gebiet Sumy in die ukrainische Sowjetrepublik zurückkehren. In seinem Erinnerungsbericht gibt er das Jahr 1954 als das eigentliche Jahr seiner Entlassung an.

Nach seiner Freilassung schloss Alexander Agafonow ein Sprachenstudium an der Odessaer Universität ab, es wurde ihm jedoch untersagt, Sprachen zu unterrichten. Schließlich arbeitete er als Lehrer für Arbeit in Sewastopol und gründete eine Familie. Jahrelang kämpfte er in der Sowjetunion um seine Rehabilitierung, die er 1973 schließlich erhielt. Erst nach dieser formalen Anerkennung konnte er die inzwischen etablierte Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald in der DDR besuchen und den Kontakt zu ehemaligen Mithäftlingen, insbesondere aus Frankreich, wieder aufnehmen. 1990 verließ er die Sowjetunion und siedelte nach Frankreich über. Er starb am 23. Dezember 2009 bei Paris, sein Grab liegt auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in einem Vorort von Paris, Sainte-Geneviève-des-Bois.

Agafonows 1991 in Russland veröffentlichter Lebensbericht „Aufzeichnungen eines Kämpfers der Schattenarmee“ erreichte hohe Auflagen. 1993 erschienen Teile unter dem Titel „Erinnerungen eines notorischen Deserteurs“ auf Deutsch. In den 1990er-Jahren besuchte Alexander Agafonow mehrfach die Gedenkstätte Buchenwald und nahm intensiv an der Aufarbeitung der Geschichte des sowjetischen Speziallagers Anteil. Sein Bericht konnte die vorhandenen Perspektiven auf die innere Verwaltung des Lagers und die zu Beginn des Speziallagers noch fluiden Organisationsformen zwischen Lagerpersonal, Bewachern und Häftlingen erweitern. Heute arbeiten die Kolleg:innen der Organisation Memorial an der Gedenkstätte unter anderem mit seiner Biographie. Ziel ist, ein auch russissch- und ukrainischsprachiges Bildungsmaterial zu entwerfen, das am Beispiel individueller Schicksale die Komplexität historischer Wirklichkeiten zeigt – entgegen der heute in Russland betriebenen staatlichen Geschichtspolitik.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Fußnoten

1 Agafonow, Alexander (1993): Erinnerungen eines notorischen Deserteurs, Berlin. Die biographischen Angaben im Folgenden sind diesem Erinnerungsbericht entnommen sowie seinem im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald vorliegenden Verlagsmanuskript. Für zahlreiche Hinweise und die Bereitstellung von umfangreichem Material bin ich Dr. Pavel Polian (Freiburg/Moskau) zu großem Dank verpflichtet.

Vgl. auch Polian, Pavel M.: Perekrestki soprotivlenija i ličnogo geroizma, in: Semenov, K.K. / Sorokina M.Ju. (2015) (Hrsg.): Rossijskaja Emigracija v bor´be s fašismom, Moskau, S. 377–385.

3 Agafonow, Alexander: „Suum Cuique”, Kap. 15 aus Verlagsmanuskript, Archiv der Gedenkstätte Buchenwald (BwA) S-B-2, S. 7.

4 Ebd., S. 8.

5 Ebd.

6 Ebd., S. 10.

7 Ebd., S. 11–18.

8 Agafonow, Alexander, Bericht, BwA S-B-2, Teil 2, S. 6.

9 Ebd., S. 10.

10 Akte Agafononv-Glancev, OA 461/4/17193, Staatliches Militärarchiv der Russischen Föderation (RGVA). Vgl. auch Poljan, Perekrestki (2015), S. 384.

11 http://www.gulag.memorial.de/lager.php?lag=442 (16.06.2023)

12 Auszug aus dem Haftprotokoll, 27.5.1950, Akte Agafonov-Glancev, OA 461/4/17193, RGVA.

13 MVD Ustvymlag, 21.10.1950, Akte Agafonov-Glancev, OA 461/4/17193, RGVA, S. 29.

14 A. Agafonow an das Präsidium des Obersten Sowjet, 2.8.1950, Akte Agafonov-Glancev, OA 461/4/17193, RGVA, S. 41.

15 Leiter Ustvymlag MVD an den Leiter der Abteilung „A“ im MGB, Moskau, 30.4.1951, Akte Agafonov-Glancev, OA 461/4/17193, RGVA, S. 42.

16 MGB an Nač. Upravlenija Ust´vymskij ITL, 30.06.1951, ličnoe delo Agafonov-Glancev, OA 461/4/17193, RGVA, S. 33.


var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '21']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();