Stiftung

Editorial

Porträt Jens-Christian Wagner

©Jens Meyer

Heft 3 unserer „Reflexionen“ widmet sich schwerpunktmäßig dem Thema der Verfolgung der Sinti:zze und Rom:nja im Nationalsozialismus und ihrer fortwährenden Ausgrenzung und Diskriminierung nach 1945. Anlass ist der 80. Jahrestag der Deportation der Sinti:zze und Rom:nja aus dem Deutschen Reich und benachbarten besetzten Gebieten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im März 1943. Kaum einer der 23.000 Deportierten überlebte. Im Familiengedächtnis der deutschen Sinti:zze und Rom:nja sind die März-Deportationen fest verankert. Der Mehrheitsgesellschaft sind die Ereignisse im März 1943 hingegen weitgehend unbekannt; im Gedenkkalender von Kommunen und Ländern spielen sie kaum eine Rolle. Sicherlich ist das auch eine Folge andauernder Ausgrenzung der Minderheit bis in die heutige Zeit. Mangelndes Wissen verstärkt wiederum aktuelle antiziganistische Anfeindungen. Dem möchten wir mit dem vorliegenden Heft etwas entgegensetzen. Dabei richten wir den Blick nicht nur auf Thüringen und Deutschland, sondern mit einem Beitrag von Jiří Smlsal über den heutigen Umgang mit dem ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager Lety auch auf Tschechien.

Neben dem Thema der Verfolgung von Sinti:zze und Rom:nja stellt das vorliegende Heft aktuelle Entwicklungen in der Geschichtskultur und in der Arbeit der Stiftung vor. Beides war im vergangenen Jahr ganz maßgeblich durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und ihre Folgewirkungen gezeichnet. Ukrainische Überlebende der Konzentrationslager, die in Buchenwald und Mittelbau-Dora gemeinsam mit ihren russischen und belarussischen Mithäftlingen gelitten hatten, müssen seither täglich fürchten, Opfer russischer Raketenangriffe zu werden. Mindestens ein ehemaliger Häftling von Buchenwald und Mittelbau-Dora wurde bereits getötet: Boris Romantschenko, ukrainischer Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, starb am 18. März 2022, als sein Wohnhaus in Charkiw bei einem russischen Angriff von einem Geschoss getroffen wurde und ausbrannte.

Als Mitglied im Hilfsnetzwerk für ehemalige NS-Verfolgte in der Ukraine, in dem sich rund 40 Gedenkstätten und Initiativen zusammengeschlossen haben, versuchen wir seit Kriegsbeginn, den ukrainischen Überlebenden der NS-Verfolgung zu helfen – sowohl vor Ort in der Ukraine als auch in Deutschland, Polen oder anderen Ländern, in die sie vor den Angriffen geflüchtet sind. Auch die Kolleg:innen der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die Anfang 2022 von der Putin-Diktatur endgültig zerschlagen wurde, versuchen wir – in Kooperation mit anderen Gedenkstätten und Stiftungen – zu unterstützen. Mehrere Memorial-Mitarbeiter:innen, die Russland verlassen mussten, haben in Thüringen Aufnahme gefunden. Vier Memorial-Kolleg:innen arbeiten derzeit für die Stiftung.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den während der Corona-Pandemie radikalisierten Verschwörungserzählungen, die gegen die liberale, westlich geprägte Demokratie gerichtet sind und häufig einen antisemitischen Kern haben, neue Facetten hinzugefügt. Russlands autoritärer Herrscher Putin versucht, den imperialen Angriffskrieg u. a. mit der Behauptung historisch zu legitimieren, der Kampf der Roten Armee zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg werde jetzt konsequent fortgeführt, indem die Ukraine von Nazis gesäubert werde. Dass er im gleichen Atemzug gegen westliche „Eliten“ und „Globalisten“ hetzt und damit antisemitische Signalwörter nutzt, zeigt die Verlogenheit seiner Propaganda. Doch sie trifft auch bei Verschwörungsgläubigen in Deutschland auf fruchtbaren Boden: Auf „Montagsspaziergängen“, auch in Weimar und Nordhausen, schwenken Rechtsextreme und „besorgte Bürger:innen“ russische Fahnen, propagieren Reichsbürgerideologie und verbreiten antisemitische Verschwörungslegenden. Zugleich liegen die Umfragewerte der extrem rechten AfD, deren Thüringer Vorsitzender Björn Höcke eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert, in Thüringen aktuell bei über 30 Prozent.

An den Gedenkstätten geht diese Entwicklung nicht spurlos vorbei. Angriffe auf die Erinnerungskultur nehmen zu. Dass in Weimar und Nordhausen im Sommer und Herbst 2022 Gedenkbäume für Häftlinge der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora abgesägt oder in Buchenwald Hakenkreuze auf Hinweistafeln geschmiert wurden, ist nur die Spitze des Eisberges. Meistens sind die Angriffe weniger „spektakulär“: Mal fallen während einer Führung geschichtsrevisionistische Bemerkungen oder werden unsere Guides mit ahistorischen NS-Gleichsetzungen konfrontiert, mal gibt es entsprechende Eintragungen in den Besucherbüchern, mal werden Mitarbeiter:innen der Stiftung telefonisch oder per E-Mail als „Geschichtsfälscher“ oder Erfüllungsgehilfen der „Corona-Diktatur“ beschimpft.

Den Verschwörungsideologien und dem Geschichtsrevisionismus müssen wir in den Gedenkstätten, aber auch sonst in der Gesellschaft, eine fachlich fundierte, quellengestützte und auf Reflexion setzende Auseinandersetzung mit der Geschichte entgegensetzen. Für die Bildungsarbeit bedeutet das, dass wir – in Abkehr von den „klassischen“ Kurzführungen im Frontalformat – auf intensive, diskursive Gruppenbetreuungen setzen. Ziel ist es, historische Urteilskraft und ein kritisches Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft zu stärken. Es geht um Erkenntnis, nicht um Bekenntnis oder Indoktrination. Dazu sollen auch die vorliegenden „Reflexionen“ beitragen. Ich wünsche allen Leser:innen eine anregende Lektüre.

Jens-Christian Wagner ist der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

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