Schwerpunkt: Antiziganistische Verfolgung im Nationalsozialismus

Kollektive Überlebensstrategien. Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora

Das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen existierte bekanntlich nur über einen relativ kurzen Zeitraum von anderthalb Jahren, von Spätsommer 1943 bis April 1945. In diese Phase fällt die Auflösung des „Zigeuner-Familienlagers“ in Auschwitz-Birkenau und die Ermordung der meisten seiner Insassen. Für die wenigen männlichen Überlebenden des Auschwitzer „Familienlagers“, die zur Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie herangezogen wurden, entwickelten sich die Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora zu den wichtigsten Auffanglagern: Etwa 2.500 als „Zigeuner“ kategorisierte Jungen und Männer wurden zwischen April und August 1944 von Auschwitz-Birkenau nach Buchenwald überstellt. Mehr als die Hälfte von ihnen, rund 1.500 Häftlinge, leitete die SS von dort nach Mittelbau-Dora weiter. Innerhalb der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma ist das KZ Mittelbau-Dora mithin ein zentraler Haft- und Todesort.

Die Geschichte der Sinti und Roma im KZ Mittelbau-Dora begann bereits kurz nach der Gründung des Lagers im Spätsommer 1943. Bereits im Herbst 1943 waren einzelne als „Asoziale“ kategorisierte Roma und Sinti in den Transporten von Buchenwald in das neue Außenlager Dora bei Nordhausen. Allerdings handelte es sich nur um einige wenige Männer. Die erste größere Gruppe von Roma und Sinti, etwa 200 Häftlinge, wurde Mitte April 1944 von Buchenwald in den Mittelbau-Komplex verlegt, und zwar in das gerade neu eingerichtete Außenlager Harzungen. Dorthin gelangten auch die meisten von rund 530 Roma und Sinti aus einem zweiten Transport, der einen Monat später, Mitte Mai 1944, von Buchenwald in das Lager Dora überstellt wurde. Die Häftlinge aus diesen beiden Transporten waren erst kurz zuvor von Auschwitz-Birkenau nach Buchenwald überstellt worden. Mit der Auflösung des „Zigeuner-Familienlagers“ in Auschwitz-Birkenau und der Vernichtung der meisten seiner Insassen deportierte die SS Anfang August 1944 noch einige Hundert weitere männliche Roma und Sinti über Buchenwald in das KZ Mittelbau-Dora, darunter viele Jugendliche und auch einige Kinder. Auch von diesen Häftlingen gelangten die meisten in das Lager Harzungen sowie in das Anfang Mai 1944 eingerichtete Außenlager Ellrich-Juliushütte. Augenscheinlich versuchte die SS, die Sinti und Roma in bestimmten Lagern zu konzentrieren, vor allem in Harzungen, Ellrich-Juliushütte und Dora. In den meisten anderen Lagern des Mittelbau-Komplexes gab es hingegen keine Häftlinge dieser Gruppe.

In allen Lagern des KZ Mittelbau zusammen genommen machten Sinti und Roma im Herbst 1944 etwa 3,6 Prozent aller Lagerinsassen aus. In Lagern wie Harzungen und Ellrich-Juliushütte, deren Insassen nahezu ausschließlich auf Baustellen eingesetzt waren, war ihr Anteil an der Lagerbelegschaft jedoch deutlich höher; in Harzungen erreichte er im November 1944 mit 11 Prozent (von 4.000 Häftlingen) den höchsten Wert.1 Insgesamt war der Anteil von Sinti und Roma im KZ Mittelbau-Dora höher als in allen anderen Konzentrationslagern des letzten Kriegshalbjahres. Neben der relativ hohen Zahl von Sinti und Roma im KZ Mittelbau-Dora fällt auf, dass die Todesrate innerhalb dieser Haftgruppe in Mittelbau-Dora relativ niedrig war. Von den etwa 1.500 in den Südharzer KZ-Komplex verschleppten Sinti und Roma starben nach den erhalten gebliebenen Unterlagen der SS mindestens 171.2 Absolut gesehen ist das sehr viel, bedeutet es doch, dass innerhalb von nicht einmal einem Jahr jeder neunte Häftling aus dieser Gruppe starb. Unter den anderen Häftlingsgruppen waren die Todeszahlen jedoch noch deutlich höher, vor allem unter den italienischen Kriegsgefangenen (von ihnen starben fast 80 Prozent) und ungarischen Juden sowie unter politischen Häftlingen, vor allem aus Frankreich und Belgien.

Tatsächlich verzeichneten Sinti und Roma im KZ Mittelbau im Vergleich zu allen anderen Haftkategorien und Herkunftsländern die niedrigste Todesrate – ein überraschender Befund, denn an der Vernichtungsabsicht seitens der SS gegenüber den in die Konzentrationslager deportierten Sinti und Roma besteht angesichts des Deportationsbefehls von Heinrich Himmler von Dezember 1942 und der Ermordung der letzten Insassen des „Familienlagers“ in Auschwitz-Birkenau im August 1944 kein Zweifel. Und die niedrige Todesrate in den Lagern des KZ Mittelbau ist noch erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass die meisten Roma und Sinti, die von der SS aus Buchenwald oder anderen Lagern in das Mittelbau-Hauptlager Dora deportiert wurden, von dort aus in die Außenlager Ellrich-Juliushütte und Harzungen weitergeleitet wurden – Lager, deren Insassen auszehrende Zwangsarbeit auf Baustellen leisten mussten und in denen eine im Vergleich zu den anderen Mittelbau-Lagern deutlich höhere Todesrate herrschte.3 Vor dem Hintergrund dieses zunächst überraschenden Befundes stellt sich damit die Frage nach den Gründen für die relativ niedrige Todesrate der Sinti und Roma in den Mittelbau-Lagern und ganz allgemein nach ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Einsicht in die Akte des Schutzlager-Rapports
Schutzhaftlager-Rapport des KZ Buchenwald, 15. August 1944. Durch die Ankunft der Transporte aus dem aufgelösten „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau am 3. August 1944 stieg die Zahl der Sinti und Roma in Buchenwald fast um das Doppelte an.
©Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar

Mit Ausnahme einiger weniger Frauen, die im Januar 1945 mit einem Räumungstransport aus dem KZ Auschwitz in Dora eintrafen und kurz darauf nach Bergen-Belsen gebracht wurden, waren alle Roma und Sinti im KZ Mittelbau-Dora männlichen Geschlechtes. Fast alle waren vor ihrer Deportation in den Südharz im „Zigeuner-Familienlager“ in Auschwitz-Birkenau inhaftiert gewesen. Dort hatten sie mehrere Selektionen überstanden und gehörten zu denjenigen Insassen des Familienlagers, die in zwei Schüben – parallel zur Ankunft der ungarischen Juden in Auschwitz – im April 1944 und unmittelbar vor der Auflösung des Familienlagers Anfang August 1944 als Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie in die KZs im Reichsinnern deportiert wurden.4 Die meisten Sinti und Roma im KZ Mittelbau-Dora, insgesamt rund drei Viertel, waren Deutsche und Österreicher. Ein weiteres Viertel kam aus der Tschechoslowakei, Polen, den Niederlanden und Frankreich. Nur relativ wenige Sinti und Roma wurden dem Hauptlager Dora zugewiesen. Dort waren nach Beendigung des Ausbaus der Unterkünfte und der Raketenfabrik seit dem Frühsommer 1944 die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Vergleich zu den mörderischen Verhältnissen in den benachbarten Außenlagern vergleichsweise günstig. Wie sich die spezifischen Existenzbedingungen für die Gruppe der Sinti und Roma im Lager Dora gestalteten und ob sie sich grundlegend von denen anderer Haftgruppen unterschieden, geht aus den erhalten gebliebenen Quellen nicht deutlich hervor. Ohnehin sind genauere Angaben zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gruppe der Sinti und Roma in den verschiedenen Lagern des KZ Mittelbau nur bedingt möglich. Das liegt vor allem an der schlechten Quellenlage, und zwar nicht nur bezüglich SS-produzierter Quellen, sondern auch im Hinblick auf Berichte überlebender Häftlinge.

Nicht nur in der Zeitgeschichtsforschung, sondern auch in den Nachkriegsprozessen gegen SS-Angehörige und Kapos aus dem KZ Mittelbau-Dora stieß das Leiden von Roma und Sinti auf nur geringes Interesse. Nur selten wurden sie als Zeugen vernommen. Im amerikanischen Dachauer Dora-Prozess von 1947 etwa sagten Überlebende fast aller Häftlingsgruppen als Zeugen aus, jedoch kein einziger Sinto oder Rom. So blieben die Berichte über die Lebensbedingungen dieser Häftlingsgruppe in dem Prozess auf Zeugenaussagen ehemaliger politischer Funktionshäftlinge beschränkt, die von antiziganistischen Vorurteilen geprägt waren – wie auch etliche publizierte Erinnerungsberichte ehemaliger politischer Häftlinge. Der Belgier Edgar van de Casteele etwa berichtete von Misshandlungen durch zum Teil erst 14-jährige Roma und Sinti, die ihre Mithäftlinge in Harzungen mit Knüppelschlägen angetrieben haben sollen.5 Ähnliches berichtete der Franzose Jean Mialet: „Ein großer Transport mit ‚Zigeunern’ aus Mitteleuropa, die Hitler ebenso wie die Juden vernichten wollte, war gerade aus Auschwitz in Dora eingetroffen. Einigen von ihnen war es gelungen, Posten mit Befehlsgewalt zu besetzen, auf denen sie, obwohl sie noch sehr jung waren, nicht gerade sanft zu Werke gingen.“6 Und der Franzose Serge Miller schrieb über die Funktionshäftlinge im Lager Ellrich-Juliushütte: „Die gefährlichsten Schmeißfliegen waren die Zigeuner. [...] Ihr Lächeln verbarg einen Dolch, und wenn die Alliierten plötzlich ins Lager gekommen wären, so hätten sie als erste ihre Beschützer vom Vortage gehängt, denn sie waren bereit, jeden zu verraten, wer es auch sein mochte.“7

In den Konzentrationslagern, in denen wegen der gezielten Unterversorgung durch die SS und angesichts des allgegenwärtigen Hungers unter den Häftlingen ein Kampf auf Leben und Tod herrschte, wurden Vorurteile aus der Zeit vor der Verhaftung nicht abgebaut, sondern eher verstärkt. Das ist bei der quellenkritischen Bewertung von Erinnerungsberichten aus den Lagern stets zu berücksichtigen, insbesondere, wenn es sich um Aussagen über das Verhalten verhasster Kapos handelt. Tatsächlich erhielten vor allem in den Lagern Harzungen und Ellrich einzelne Sinti und Roma Funktionsposten, vor allem als Kapos und Vorarbeiter in den Arbeitskommandos. Damit gelangten sie in die Situation, als Angehörige einer nach SS-Klassifizierung niedrigstehenden Häftlingsgruppe Mitgefangenen übergeordneter Häftlingskategorien Anweisungen geben zu können oder zu müssen. Vermutlich hatte das funktionale Gründe: Deutschsprachige „politische“ oder „kriminelle“ Häftlinge, die sich in den Arbeitskommandos mit den zivilen Vorarbeitern und Meistern verständigen konnten, gab es in den Mittelbau-Lagern nur in sehr begrenzter Zahl, und so griff die SS auf deutschsprachige Sinti zurück – ein weiterer Hinweis auf das Aufweichen normativer ideologischer Zielsetzungen und rassistischer Grenzlinien zugunsten pragmatischer Nützlichkeitserwägungen in der Endphase des KZ-Systems.

Gleichwohl betraf die Ernennung zu Kapos und Vorarbeitern nur eine verschwindend kleine Minderheit unter den Roma und Sinti. Die Mehrheit hatte – auch wenn das viele Mithäftlinge nicht wahrnahmen – besonders unter der Drangsalierung durch die Lager-SS zu leiden. So sollen die Roma und Sinti im Lager Harzungen dem Bericht eines SS-Angehörigen zufolge im Vergleich zu ihren Mithäftlingen besonders schlecht ernährt gewesen sein.8 Über die Arbeitsbedingungen, unter denen sie leiden mussten, berichtete ein französischer ehemaliger Häftling: „Diese Häftlinge wurden während einer Arbeit, die sie für einige Tage verrichten mussten, die Opfer unsagbarer Gewalttätigkeiten. Diese Arbeit wurde immer im Laufschritt ausgeführt, ohne dass man auch nur einmal an halten durfte. Einer dieser Zigeuner fiel entkräftet in eine Grube auf der Baustelle. Der SS-Mann, der uns bewachte, befahl allen anderen Häftlingen, Trägern und Schubkarrenfahrern, über den Körper des Unglücklichen zu gehen, woran dieser starb.“9

Nur wenigen Roma und Sinti gelang es, der mörderischen Arbeit auf den Baustellen zu entgehen. Zu denen, die es schafften, gehörten neben den Funktionshäftlingen die Angehörigen der sogenannten „Zigeunerkapellen“, von denen aus den Lagern Dora und Harzungen berichtet wird (in Harzungen soll es diese bereits im Sommer 1944 gegeben haben, in Dora erst später).10 Diese spielten auf Anweisung der SS beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitskommandos oder auch an arbeitsfreien Sonntagen. Oft mussten sie auch bei entwürdigenden Umzügen spielen, bei denen wiederergriffene geflüchtete Häftlinge unter Schlägen und Musikklängen zur Abschreckung durch das Lager getrieben wurden.

Schwarz-Weiß-Foto von Cäcilie Rosenbach (links, sitzend) und ihrem Sohn Franz (rechts, stehend)
Franz Rosenbach mit seiner Mutter Cäcilie, 1938. Cäcilie Rosenbach starb im „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau. Ihr Sohn Franz überlebte die Lager Auschwitz und Mittelbau-Dora. 2012 starb er in Nürnberg.
©Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg

In der in den vergangenen Jahren erstellten Datenbank der Todesfälle im KZ Mittelbau-Dora sind mit 11.089 Namen fast alle Häftlinge erfasst, die zwischen August 1943 und Anfang April 1945 in den Mittelbau-Lagern starben (nicht erfasst sind diejenigen, die als „arbeitsunfähig“ in andere Lager überstellt wurden und von denen die meisten starben, und auch nicht mehrere Tausend Häftlinge, die die Todesmärsche während der Räumung der Mittelbau-Lager im April und Mai 1945 nicht überlebten).11 Darunter befanden sich 171 Tote, die auf den SS-Listen als „Zigeuner“ kategorisiert waren. Insgesamt mag die Zahl der ums Leben gebrachten Sinti und Roma noch etwas höher gewesen sein, weil manche nicht als „Zigeuner“, sondern als „Asoziale“ bzw. mit dem Kürzel ASR („Aktion Arbeitsscheu Reich“) geführt wurden. Trotzdem war die Gesamtzahl der in Mittelbau-Dora getöteten Sinti und Roma – verglichen mit den Angehörigen anderer Häftlingsgruppen und auch wenn es zynisch klingen mag – vor allem angesichts des zweifellos hohen Vernichtungsdrucks seitens der SS auffallend niedrig. Unter den als „politisch“ eingewiesenen Franzosen und Belgiern etwa war die Todesrate mehr als viermal so hoch, obwohl diese Häftlinge als nichtjüdische Westeuropäer auf der rassistischen Stufenleiter der SS deutlich höher als Sinti und Roma angesiedelt waren. Lediglich unter politischen und als „kriminell“ eingewiesenen deutschen Häftlingen war die Todesrate niedriger als bei den Sinti und Roma.

Eine Erklärung für die ungleiche Verteilung der Todesfälle je nach Herkunft oder Einweisungsgrund ist schwer zu finden. Es lassen sich aber einige Indizien identifizieren, die auf eine Gemengelage aus situativen und ideologischen Faktoren hindeuten. Von einiger Bedeutung dürfte das Alter der Häftlinge gewesen sein. Rund zwei Drittel der Sinti und Roma waren zwischen 18 und 30 Jahre alt und damit in einem Alter, in dem die körperliche Widerstandskraft am höchsten ist. Bei den Franzosen und Belgiern war hingegen die Hälfte der Gefangenen über 30 Jahre alt und immerhin noch über fünf Prozent älter als 50 Jahre. Am wichtigsten dürften hinsichtlich der Überlebenschancen die Gruppenstrukturen sowie die habituelle und soziale Prägung der Gefangenen gewesen sein. Eine einzigartige Quelle ist in dieser Hinsicht der Bericht des französischen Diplomaten und Orientalisten Frédéric Max, der 1944 als Häftling im KZ Buchenwald sprachwissenschaftliche und anthropologische Aufzeichnungen über mitgefangene Sinti und Roma vor deren Deportation nach Mittelbau-Dora anfertigte. Diesen Aufzeichnungen zufolge, deren (streckenweise von romantisierenden Stereotypen geprägte) Zusammenfassung er Anfang 1946 in einer Fachzeitschrift veröffentlichte, hätten diese Häftlinge ihre Mitgefangenen vor allem durch ihre kollektiv zur Schau getragene Lebensfreude und ihren Mut beeindruckt: „Sie sangen und lachten, obwohl sie am Morgen darauf zur Arbeit in den Stollen von ‚Dora’ aufbrechen sollten.“ Bezeichnend ist der Bericht über einen Außenseiter unter den für Dora bestimmten Roma: „Nur einer von ihnen, der sehr jung war, hielt sich abseits und schien sehr traurig zu sein. Er weigerte sich, zu singen und stützte seinen Kopf auf die Hände. Die anderen betrachteten ihn mit Verachtung und Ärger: ‚Dieser Mensch da’, sagte ein junger Rom, ‚wäre besser, wenn er stirbt, denn er ist traurig.’“12 In den Augen seiner Mithäftlinge hatte dieser junge Rom offenbar bereits verloren; er zeigte keinen Optimismus und hatte sich außerhalb der Gruppe gestellt. Indem er sich abseits stellte, hatte er nach Meinung seiner Mitgefangenen (oder zumindest des teilnehmend-beobachtenden Wissenschaftlers) das preisgegeben, was ihn am Leben erhielt: den Gruppenzusammenhalt, der nicht nur psychisch, sondern auch materiell Voraussetzung dafür war, in der Wolfsgesellschaft des Konzentrationslagers zu überleben.

Dass der Gruppenzusammenhalt unter den Sinti und Roma stärker ausgeprägt gewesen sein dürfte als in anderen Häftlingsgruppen, ist wenig überraschend. Zum einen waren vielfach ganze Großfamilien ins KZ verschleppt worden, deren Angehörige sich gegenseitig stützten. Zum anderen waren es viele Sinti und Roma wegen der Ausgrenzung und Verfolgung durch die Mehrheitsgesellschaften in ihren Herkunftsländern von klein auf gewöhnt, sich gegen eine feindlich gesinnte Umgebung durchzusetzen. Das taten sie auch in einem Lager wie Ellrich-Juliushütte, in dem unter den Häftlingen ein Kampf auf Leben und Tod herrschte. Mehr als andere Häftlingsgruppen nahmen die Sinti und Roma hier, das deuten jedenfalls die Berichte Überlebender an, ihr Schicksal in die eigenen Hände und widersetzten sich als Gruppen solidarisch dem Vernichtungswillen der SS.

Einblick in Akte: Meldung über Tod dreier Sinti und Roma
Meldung des SS-Lagerführers im Außenlager Harzungen („Mittelbau III“) des KZ Mittelbau-Dora, SS-Hauptsturmführer Wilhelm Frohne, über den Tod der als „Zigeuner“ verfolgten Häftlinge Eduard Florian, Mathäus Dombrowski und Josef Herzenberger, 6. Februar 1945.
©Arolsen Archives

Dabei half es ihnen, dass die SS relativ viele deutsche Sinti in Ellrich als Vorarbeiter und Kapos einsetzte. Ein Häftling, der einen Funktionsposten hatte (und da spielte es keine Rolle, welche Kategorie ihm die SS zugewiesen hatte), erhielt gewöhnlich das „Privileg“, nicht gleich verhungern zu müssen. Zudem konnte er seine begrenzte Macht nutzen, um Angehörige der eigenen Bezugsgruppe in leichtere Arbeitskommandos zu bringen oder sie bevorzugt mit Lebensmitteln zu versorgen. Das scheint angesichts der engen solidarischen Gruppenbeziehungen innerhalb der Häftlingsgruppe der Sinti und Roma oftmals vorgekommen zu sein. Der Sinto Friedrich M. etwa berichtete, er sei im Lager Ellrich-Juliushütte Vorarbeiter in einem Arbeitskommando geworden, das sein Cousin als Kapo angeführt habe.13 Ähnliches berichtete der Sinto Franz Rosenbach: „Mein Cousin, der auch dort war, der war auch ein Sinto. Und der war sozusagen der Vorarbeiter dort und der hat immer zu mir gesagt: ‚Franz, Du bleibst bei mir, ich passe schon auf Dich auf, ich passe schon auf.‘ Und der war schon in Ordnung.“14 In anderen Fällen wird die Inhaftierung von Familienangehörigen aber die psychischen Qualen sicherlich noch verstärkt haben; schließlich mussten viele Sinti und Roma in Auschwitz mit ansehen, wie ihre Angehörigen in die Gaskammern getrieben wurden, und auch auf den Baustellen des Mittelbau-Komplexes sahen viele Roma und Sinti den Bruder oder den Vater vor Erschöpfung tot zusammenbrechen.

Mit dem relativ hohen Häftlingsanteil von Sinti und Roma spielen die Lager des KZ Mittelbau, insbesondere Ellrich-Juliushütte, Harzungen und Dora, innerhalb der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma eine herausragende Rolle. Das gilt vor allem für die Funktion Mittelbau-Doras als Auffanglager für diejenigen Häftlinge, die von der SS bei der Auflösung des „Zigeuner-Familienlagers“ in Birkenau als „arbeitsfähig“ vom Rest ihrer Familienangehörigen, die im Gas erstickt wurden, getrennt worden waren. Vor diesem Hintergrund überrascht die vergleichsweise niedrige Todesrate unter den nach Mittelbau-Dora verschleppten Sinti und Roma umso mehr. Die Untersuchung der Gründe dafür offenbart, dass die Überlebenschancen bei weitem nicht ausschließlich von der Absicht der SS und damit intentionalen ideologischen Vorgaben abhängig waren, sondern stark von situativen Faktoren: dem Haftweg, dem Zeitpunkt der Einweisung bzw. Deportation in das KZ Mittelbau-Dora, dem Alter und der beruflichen Qualifikation. Ganz wesentlich dürfte zudem das jeweilige individuelle und kollektive Verhalten der Häftlinge selbst gewesen sein. Der Blick auf die Häftlingsgruppe der Sinti:zze und Rom:nja und ihren Überlebenskampf in den Konzentrationslagern ist daher auch ein Plädoyer dafür, die Häftlinge nicht als willenlose anonyme Masse, sondern als handelnde Akteur:innen wahrzunehmen, an deren Überlebens- und Widerstandswillen die SS oftmals scheiterte. Es ist deshalb an der Zeit, die Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja in den Konzentrationslager nicht nur als Leidensgeschichte zu erzählen, sondern auch als eine von Eigensinn, Selbstbehauptung und Widerstand.

Der Historiker Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er kuratierte 2012 die Ausstellung „Von Auschwitz in den Harz. Sinti und Roma im KZ-Mittelbau-Dora“.

Der vorliegende Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung von: Wagner, Jens-Christian: Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 14, 2012, S. 99–107 (detaillierte Quellennachweise dort).

Fußnoten

1 Vgl. Wagner, Jens-Christian (2015): Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, überarbeitete und aktualisierte Neuauflage, Göttingen, Anlage 6, S. 617.

2 Vgl. Datenbank „Totenbuch KZ Mittelbau“, Dokumentationsstelle der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora (DMD).

3 Zum Lager Ellrich-Juliushütte vgl. Wagner, Jens-Christian (2009): Ellrich 1944/45. Konzentrationslager und Zwangsarbeit in einer deutschen Kleinstadt, hrsg. von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Göttingen.

Vgl. Zimmermann, Michael (1996): Rassenutopie und Genozid, Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg, S. 339 f.

5 Vgl. van de Casteele, Edgar (1997): Ellrich. Leben und Tod in einem Konzentrationslager, Bad Münstereifel, S. 35 (belgisches Original: Ellrich – Leven en Doot in een Concentratiecamp, Antwerpen 1946).

6 Mialet, Jean (2006): Haß und Vergebung. Bericht eines Deportierten, Bad Münstereifel, S. 129 (Original: Le déporté. La haine et le pardon, Paris 1981).

7 Miller, Serge (1947): Le Laminoir – Récit d’un Déporté, Paris, S. 33.

8 Vgl. Aussage Arthur Max Sachse (ehem. SS-Rottenführer), 7.5.1947, NARA, M-1079, Roll 5, Bl. 703.

9 Aussage Claude Marchand, 5.11.1965, BA Ludwigsburg, 429 AR-Z 224/72, Bl. 29.

10 Vgl. Mirbach, Willy (1997): „Damit du es später deinem Sohn einmal erzählen kannst...“. Der autobiographische Bericht eines Luftwaffensoldaten aus dem KZ Mittelbau (August 1944–Juli 1945), hrsg. und kommentiert von Gerd Halmanns, Geldern, S. 41, sowie Michel, Jean (1979): Dora, London, S. 226 ff.

11 Vgl. Datenbank „Totenbuch des KZ Mittelbau-Dora“, DMD.

12 Frédéric Max: Le sort des Tsiganes dans les prisons et les camps de concentration de l’Allemagne hitlérienne, in: Journal of the Gypsy Lore Society, third series, vol. XXV, Nos. 1-2/1946, S. 24–34, hier zitiert nach einer deutschen Übersetzung der Gedenkstätte Buchenwald, Buchenwald-Archiv, ohne Signatur.

13 Vgl. Aussage Friedrich M., 15.2.1968, BA Ludwigsburg, 429 AR-Z 224/72, Bl. 209 ff.

14 Franz Rosenbach (2005): Der Tod war mein ständiger Begleiter, München, S. 98.

 


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