Geschichtskultur

Sieben Fragen an Natalia Baryshnikova und Sergey Bondarenko

Unsere Kolleg:innen aus der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“

Schwarz-Weiß-Foto von Sergey Bondarenko
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Sergey Bondarenko. Auf seiner Maske steht: „Memorial nicht verbieten“.
Schwarz-Weiß-Foto von Natalia Baryshnikova mit Mikrofon, hinter ihr auf der Wand das Memorial Logo
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Natalia Baryshnikova im Büro von Memorial in Moskau.

Seit 2012 werden NGOs und andere Gruppierungen (seit 2020 auch Privatpersonen) als „ausländische Agenten“ registriert, wenn sie zumindest teilweise aus dem Ausland finanziert oder „beeinflusst“ werden. Betroffene Organisationen müssen nicht nur ihre Finanzquellen offenlegen. Die oft willkürliche Einstufung bedeutet auch eine Stigmatisierung, die die Arbeit der Betroffenen massiv einschränkt. Ausländische Agenten dürfen etwa keine Bildungsangebote mehr leisten, Behörden und Unternehmen ziehen sich aus der Zusammenarbeit zurück. Der russischen Regierung dient das „Ausländische-Agenten-Gesetz“ als weiteres Mittel, um die Rechte von Opposition und Zivilgesellschaft einzuschränken.

Natalia Baryshnikova (NB): All diese Maßnahmen fügen sich in die Logik der repressiven Politik der russischen Regierung gegenüber der Zivilgesellschaft ein. Wir haben sie als ärgerlich, frustrierend, ungerecht, aber auch als unvermeidlich empfunden. „Memorial“ war lediglich einer von mehreren Akteuren, die die Folgen dieser Politik zu spüren bekamen. Als die Serie der verschiedenen Angriffe auf „Memorial“ schließlich mit dem Auflösungsbeschluss endete, herrschte eine gewisse Erleichterung. Wir dachten, dass es nichts mehr zu befürchten gab, dass das Schlimmste bereits überwunden sei. Am 24. Februar 2022 wurde alles natürlich noch erschreckender. Die Staatsanwaltschaft hat uns mit ihren Angriffen zunächst viel Aufmerksamkeit verschafft. Wir haben eine öffentliche Kampagne gestartet. Dank unserer Klage gegen die Zwangsauflösung haben uns viele Menschen wahrgenommen, die zuvor noch nie von der Organisation „Memorial“ gehört hatten. Viele Menschen kamen in diesen Monaten zum ersten Mal zu „Memorial“, um mit uns zusammenzuarbeiten. Diese zwei Monaten des Gerichtsprozesses fühlten sich wie ein ganzes Leben an. Leider hat mich das sehr belastet, so dass ich eine emotionale Erschöpfung verspürte. Nach Kriegsbeginn veranstalteten wir ein Anti-Kriegs-Festival mit Musiker:innen und Dichter:innen. Das war das Letzte, das wir in Moskau vor unserer Abreise tun konnten. Dadurch war alles leichter zu ertragen, weil es eine Gemeinschaft um uns herum gab.

Sergey Bondarenko (SB): Es kam mir so vor, wie in Büchern oder Filmen. Ein Krieg beginnt, und man steht vor der Wahl: verlasse ich das Land oder versuche ich, hier etwas zu erreichen? Ich hatte kaum Zeit, mich von meiner Mutter, meinem Großvater und meinen Brüdern zu verabschieden. Mein Großvater sagte mir noch, ich solle wieder einmal Bulgakows „Die Flucht“ ansehen. In den ersten Wochen hoffte ich, wie alle anderen auch, dass der Krieg bald vorbei sein würde und dass ich nach ein paar Monaten zu ihnen zurückkehren könnte. Leider starben mein Großvater und mein älterer Bruder kurz nachdem ich weggegangen war. Es fällt mir schwer, mir Russland und Moskau im Moment vorzustellen. Einerseits tun viele so, als ob sich nichts geändert hätte, und man weiterleben könnte wie bisher. Andererseits weiß und spürt jeder, dass dies jetzt ein Land der Toten ist, ein Land, das einen Krieg führt.

NB: Das war ein sehr seltsames Gefühl. Wir waren erst kurze Zeit in Deutschland, als wir die Einladung erhielten. Wir konnten uns nicht vorstellen, was „russische Zivilgesellschaft“ bedeutet und wie wir in ihrem Namen sprechen können.

 

SB: Die Schwierigkeit bestand darin, dass wir den Text des Buchenwald-Schwures auf Russisch aufsagen sollten. Aber unter den aktuellen Umständen – während des Krieges, den der russische Staat gegen die Ukraine führt – klangen die Worte dieses Schwurs auf Russisch sehr doppeldeutig. Die Sprache erinnerte an die Propagandasprache Putins, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Entnazifizierungsmaßnahme“ zu rechtfertigen versucht. Wir haben die Entscheidung getroffen, den Buchenwald-Schwur auf Russisch nicht vorzulesen. Wir gingen schweigend zum Appellplatz. Der Schwur wurde ausschließlich auf Ukrainisch und Belarussisch vorgelesen.

 

NB: Ich habe all die Jahre bei „Memorial“ über die Praktiken des Gedenkens recherchiert. Plötzlich hatte ich die Möglichkeit und auch das Bedürfnis, mich selber daran zu beteiligen. Und das in einer so schwierigen Situation, unglaublich!

 

SB: Ich dachte sofort, dass ich diese Geschichte später in Vorlesungen vor Studierenden erzählen würde. Sie zeigt, wie Gedenkkultur im Krieg funktionieren kann.

Aktivist, der Protestschild hochhält, umringt von vielen Leuten vor dem Obersten Gerichtsof in Moskau
Die Polizei nimmt vor dem Gebäude des Obersten Gerichts in Moskau einen Aktivisten fest, der ein Plakat mit der Aufschrift „Wir werden ewig leben“ trägt, während im Gericht die Auflösung von Memorial beschlossen wird. 28. Dezember 2021.
©David Frenkel / Mediazona

SB: Wir haben in den letzten Monaten in Moskau unter dem Eindruck der drohenden Zwangsauflösung gearbeitet. Wir mussten uns also darauf einstellen, bald keine Arbeit, kein Geld und keine Möglichkeit mehr zu haben, Arbeitsmaterialien zu bekommen. In dieser Hinsicht waren wir also seltsamerweise tatsächlich vorbereitet. Ich hatte über 20.000 Mappen mit Materialien in meinem digitalen Archiv und konnte sie bearbeiten, wo immer ich war. Natürlich bin ich sehr dankbar, dass ich sie in der Gedenkstätte Buchenwald nachlesen und studieren kann, deren Archiv selber Material aus verschiedenen Blickwinkeln enthält, die mit unserer Arbeit bei „Memorial“ zusammenhängen. Unsere kleine Forschungsgruppe analysiert politische Ermittlungsakten und bereitet ein Buch mit den Namen und Biografien von Personen vor, die in Moskau und Umgebung aus politischen Gründen verhaftet wurden. Parallel dazu versuchen wir, sie als politische Texte zu lesen. Sie sind sowohl Beispiele des stalinistischen Diskurses, als auch eine Chronik des sowjetischen Alltags. 

NB: Das Ziel meines Projekts ist es, zugängliche Stätten und Zeichen des Erinnerns an die Verfolgten des sowjetischen totalitären Systems in Ostdeutschland in der Nachkriegszeit zu erforschen. Ich sammle und analysiere Details über Eigenschaften und die Geschichte der Objekte. Ich möchte untersuchen, wie die Erinnerung an die sowjetischen Verbrechen vor Ort funktioniert, wie sie mit dem städtischen Raum kommuniziert und inwiefern diese Objekte mit den Beispielen in Moskau verglichen werden können. Seit einigen Jahren schon sammeln meine Kolleg:innen und ich in einer Datenbank Gedenkzeichen an den sowjetischen Terror in Moskau. Bisher sind dies 200 Objekte, die direkt oder indirekt die Geschichte des Terrors repräsentieren – Denkmäler, Gedenktafeln, Schilder und Gedenkstätten, die seit den 1960er-Jahren in Moskau aufgestellt oder angebracht wurden. Basierend auf dieser Datenbank haben wir die Website „Oskolki“ („Verstreute Fragmente“) erstellt, die die Erinnerungskultur an die sowjetischen Repressionen in Moskau visualisiert. Auch in Ostdeutschland hinterließen das sowjetische System und seine Unterdrückungsmechanismen spezifische Spuren in der Geschichte. Dies spiegelt sich zweifellos im kollektiven Gedächtnis wider, das sich unter anderem auch in Form von Denkmälern ausdrückt. Wenn wir uns etwa die Denkmäler ansehen, die den Aktivitäten des sowjetischen Geheimdienstes in der ehemaligen DDR gewidmet sind, können wir eine Vielzahl von Herangehensweisen feststellen. Wie zugänglich sind diese Orte? Wie klar und ehrlich erzählen sie über historische Ereignisse? Wem (oder was) genau sind die Denkmäler gewidmet? Wer hat die Schaffung dieser Denkmäler initiiert? Welche Praktiken und Diskussionen gibt es in ihrem Umfeld? Wie beziehen sie den umgebenden Raum ein?

 

SB: In den letzten Jahren habe ich zu Ermittlungen und Gerichtsprozessen der 1930er-Jahre in der Sowjetunion geforscht. Zuvor hatte ich mich mit der Lektüre russischer Literatur beschäftigt. Ich war erstaunt, dass mich die Ermittlungsfälle aus den 1930er-Jahren an die Romane des Sozialistischen Realismus erinnerten. Durch die Lektüre und Analyse der Ermittlungs- und Gerichtsakten erfahre ich etwas über das sowjetische und, offen gesagt, russische Leben, das ich sonst nirgendwo erfahren habe. Wenn wir eine Ermittlungsakte lesen, versuchen wir uns zunächst vorzustellen, wie sie die Geschichte der Beschuldigten selbst erzählt. Es kommt oft vor, dass wir dort so viele Stimmen gleichzeitig hören: die Stimme des Ermittlers, der die Vernehmung durchführt, die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft und das Urteil des Gerichts. Es gibt auch Briefe von Verwandten, Tagebücher, Anträge auf Rehabilitierung. Sie zeigen sehr deutlich eine spezifisch sowjetische Art des Sprechens und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt und verändert hat. Ich hoffe, das Material mehrerer Ermittlungsfälle in separaten Büchern veröffentlichen zu können, die Briefe, Memoiren, Fotos und selbstgemachte Journale mit Zeichnungen zu den Ermittlungsfällen. All diese Dokumente haben wir in den letzten fünf Jahren gelesen und gesammelt.

Schwarz-Weiß-Fotografie einer Menschenmenge, die auf den Obersten Gerichtshof Russlands zuläuft
Vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs Russlands, während einer Anhörung zur Auflösung von Memorial. Dezember 2021.
©Alisa Milchin / Memorial International

SB: Leider haben sich viele Menschen in Russland inzwischen auf die immer gleichen Formeln und Propaganda-Klischees zurückgezogen: „Die ganze westliche Welt ist gegen uns.“, „Wir sind das letzte Bollwerk der Freiheit in der Welt. “ Oder: „Wir müssen die „Agenten“ im eigenen Land bekämpfen, die uns am Sieg hindern.“ Während noch vor wenigen Jahren viele Menschen in Russland der Meinung waren, dass Verweise auf Stalin und seine Zeit für das heutige russische Regime eher postmoderner, symbolischer Natur seien, kommt man heute nicht mehr von ihnen los. Die Politiker in Russland spekulieren ernsthaft darüber, ob die Staatsgrenzen endlich geschlossen oder die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll. Memorial sagt genau das seit Jahren: Ohne eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem wahren Wesen der stalinistischen Diktatur und den Verbrechen des Stalinismus können wir unser Leben heute nicht neu denken. Rückblickend können wir die Anzeichen für diese Entwicklung bereits in den 1990er-Jahren erkennen: Der Krieg in Tschetschenien ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Krieg in der Ukraine. Schon in den ersten Jahren der Präsidentschaft Putins herrschte der Wunsch vor, zur „Größe des Staates“ zurückzukehren, wenn nicht zur Zeit Stalins, dann doch zur Zeit Breschnews. Und die Breschnew-Ära war in vielerlei Hinsicht eine neostalinistische Ära, die nicht nur mit der Invasion in Afghanistan endete, sondern auch für Wladimir Putin selbst und die Menschen in seinem Umfeld eine Periode der Reifung und Ausbildung war. So leben wir auch heute noch mit Stalin und verschiedenen Varianten seines Kults.

NB: Das Nobelpreiskomitee gab die Preisvergabe an Memorial an dem Tag bekannt, an dem ein Gericht in Moskau beschloss, die Räumlichkeiten der Organisation zu beschlagnahmen. Die Nachricht über die Auszeichnung hinderte den Richter in keiner Weise daran, die Beschlagnahmung des Büros anzuordnen. Für die Propaganda war der Preis ein zusätzlicher Beleg für die Feindseligkeit von „Memorial“, eine Bestätigung, dass wir „Agenten“ sind. Die einzige offizielle Stellungnahme der russischen Behörden war die Aufforderung, den Preis abzulehnen. Darin kann man natürlich eine Kontinuität zu der Art und Weise sehen, wie Nobelpreisträger in der Sowjetunion behandelt wurden: Pasternak und Solschenizyn wurden angefeindet, Bunin und Brodsky lebten bereits im Ausland, als sie den Preis erhielten. Es ist schwierig, über Wahrnehmungen in der russischen Gesellschaft zu sprechen, in der keine unabhängige soziologische Erhebungen durchgeführt werden können. Einer meiner ersten Gedanken nach der Bekanntgabe des Preises war der an meine Eltern. Ich weiß, dass für sie der Preis keinen Unterschied macht. Sie meinen, dass es wohl um eine Anerkennung des „uns hassenden Westens“ handelt. Sie haben meine Arbeit bei Memorial nie gutgeheißen. Sie haben nicht verstanden, warum ich mich mit „schrecklichen Themen“ beschäftige, und „in der Vergangenheit der fremden Menschen“ etwas suche. Vielleicht können sie jetzt ein Stück besser verstehen, wie wichtig meine Arbeit ist, und warum ich hier und nicht in Russland bin.

Die Fragen stellte Julia Landau, Kustodin Sowjetisches Speziallager Nr. 2, Gedenkstätte Buchenwald.

Die Bundesstiftung Aufarbeitung unterstützt die Kooperation mit den Kolleg:innen von Memorial mit dem internationalen Austauschprogramm Memory Work.

 

Auf der Website „Oskolki“ („Verstreute Fragmente“) hat die Organisation Memorial Gedenksteine, Tafeln, Schilder und sonstige Zeichen der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetunion in Moskau gesammelt und visualisiert. Die Seite ist auf Englisch hier abrufbar: https://oskolki.memo.ru/en/


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