Schwerpunkt

Erding: Ein digitales Denkmal an Zwangsarbeiter:innen als Crowdfunding-Projekt

Ein Gespräch mit Giulio Salvati

Zwischen Oktober 2019 und Mai 2020 haben 14 ehrenamtliche Helfer:innen über zweihundert Arbeitsstunden aufgewendet, um die erste öffentliche Datenbank zur Zwangsarbeit in Bayern aufzubauen. Die etwa 4.500 Karteikarten des Arbeitsamtes Erding-Freising 1939–1945 im Staatsarchiv München sind dabei vollständig retrodigitalisiert und mitsamt den Erkennungsbildern veröffentlicht worden. Somit konnte vermutlich die Hälfte aller Namen der 8.000 bis 10.000 ausländischen Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangenen im Landkreis Erding erschlossen werden.

 

Diese partizipative Methode, mit interessierten Laien im Team zu arbeiten, hat die Jury des Tassilo-Kultur-Sozialpreises im Mai 2021 als einen „wegweisenden Ansatz“ ausgezeichnet. Aus dem Projekt sind eine Ausstellung, drei öffentliche Gedenkveranstaltungen, zwei erfolgreiche Crowdfunding-Kampagnen, ein Online-Archiv und die erste Erinnerungsstele im Landkreis entstanden. Das Projekt ist nun abgeschlossen und bietet eine zentrale Ressource, um das Thema der NS-Zwangsarbeit im lokalen Raum sichtbar zu machen und selbstständig kritisch einordnen zu können.

 

www.erding-geschichte.de

Partizipation, also das „MitmachenLassen“, ist wohl die jüngste Herausforderung für Gedenkstätten und Museen. Wir haben versucht, das mit Leben zu füllen. Im Zuge meiner Seminararbeiten zu den ausländischen Zwangsarbeiter:innen im Landkreis Erding vor fast zehn Jahren konnte ich nie mehr als eine Stichprobe der tausenden Arbeitskarten erschließen, die vom Arbeitsamt Erding-Freising überliefert wurden und heute im Staatsarchiv München aufbewahrt werden. Als mein Vorschlag einer umfassenden Digitalisierung bei den Institutionen und Vereinen vor Ort auf wenig Resonanz stieß, entschloss ich mich Ende 2019, ein Public-History-Projekt zu beginnen und eine mir bis dahin unbekannte Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten.

Durch freiwillige Leistungen und die Unterstützung einer Medienagentur. Die Kosten für die Webseite trägt die Agentur Medienstürmer in München, die das Projekt freundlicherweise logistisch und konzeptuell seit den ersten Tagen unterstützt hat. Die zwölf Ehrenamtlichen, die durch den Medienaufruf auf mich zugekommen sind, haben selbstständig Anreisekosten bezahlen müssen. Insgesamt kamen über 150 Arbeitsstunden für die Transkription zusammen (Retro-Digitalisierung) und nochmal etwa 80 Stunden zur Pflege und Angleichung der Datensätze (Data-Säuberung). Zwei Crowdfunding-Kampagnen haben etwa 5.000 Euro eingebracht. Davon gingen 1.500 Euro direkt zum Staatsarchiv. Die restliche Summe deckte die Hälfte der Kosten für die erste Erinnerungsstele im Landkreis

Genau. Dieser Fragenkatalog spiegelt viele der Bedenken, Sorgen und Hoffnungen wider, die die Ehrenamtlichen und ich am Anfang hatten. Viele sorgten sich, man könnte die Veröffentlichung der Arbeitsstellen auf der Rückseite der Arbeitskarten als eine Art Pauschalurteil für die etwa 500 Arbeitgeber:innen im Landkreis auffassen. Ich selbst befürchtete eine Anzeige. Es herrschte viel Unklarheit darüber, wo Aufklärung endet und wo eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener anfängt. Es sollte eine Herausforderung für viele sein, sich mit dem Thema persönlich auseinanderzusetzen, wenn sie den eigenen Familiennamen im Zusammenhang mit NS-Zwangsarbeit lesen, aber wir wollten niemand überfordern. Es durfte auch kein Top-Down-Prozess sein. Da habe ich viel im Gespräch mit den Ehrenamtlichen gelernt, bevor es zu einer Veröffentlichung kam

Fotografie der Gedenkveranstaltung auf Schrannenplatz in Erding, im Vordergrund Installation der Arbeitskarten, im Hintergrund Besucher:innen der Veranstaltung
Gedenkveranstaltung und Installation der Arbeitskarten auf dem Schrannenplatz in Erding, 8. Mai 2021
©Georg Winkens

Die Zahlen schwanken stark, je nachdem wie medial präsent wir sind und ob im Monat Events stattfinden. Seit das Projekt offiziell fertig ist und keine neuen Updates gepostet werden, finden 150 bis 200 Menschen im Monat selbstständig und ohne Anzeigen den Weg zu uns. In der Hochphase 2020, als beinahe wöchentlich in den Sozialen Medien oder in der Lokalpresse Meldungen veröffentlicht wurden, waren es 1.800 bis 3.000 Besucher:innen. Bei einer Einwohnerzahl von etwa 34.000 in Erding und 137.000 im gesamten Landkreis bin ich zufrieden mit diesen Nutzungszahlen. Zusätzlich werden über die Zeit andere Effekte sichtbar: Seit etwa zwei Jahren verwendet niemand in der lokalen Öffentlichkeit mehr den Begriff „Fremdarbeit“ und bei den Gedenkveranstaltungen in den Gemeinden wird immer häufiger auf die Zwangsarbeiter:innen selbst verwiesen.

Der Prozess zwischen 2019 und 2022 zeigte mir, dass viele der Familien von ehemaligen Zwangsarbeiter:innen, die hier im Landkreis geblieben waren, die Datenbank zwar fleißig nutzten, aber nicht selbst aktiv werden wollten. Ebenso fand ich erstaunlicherweise nur vereinzelt Anschluss zur lokalen deutsch-polnischen Community. Der Künstler Andreas Bialas war eine große Hilfe, sodass bei den Führungen und Aktionen viele Menschen ihre persönlichen Familiengeschichten (und oftmals mitgebrachte Fotos) teilen konnten. Viele deutsch-polnische Familien sahen die öffentlichkeitswirksamen Aktionen allerdings mit Argwohn – bestimmte innerfamiliäre Spannungen wollte man nicht noch verstärken.

Die meisten Ehrenamtlichen brachten Fähigkeiten und Kenntnisse aus der Vereinstätigkeit mit. So konnte die Reichweite der Aktionen erhöht werden. Offene Türen rannten wir bei Gewerkschaften und Antirassismus-Gruppen ein. Zeitungsannoncen waren stets erfolgreicher als Werbung in den Sozialen Medien, um Leute zu mobilisieren. Das Museum Erding unterstützte eine Ausstellung zu Kriegsende und Zwangsarbeit und dieses Jahr half die Stadt mit, die Kosten und Logistik für den Aufbau der Erinnerungsstele zu stemmen. Im Nachhinein kann man eine Art Schneeballeffekt feststellen. Letztlich ist das digitale Projekt seit der Einweihung der Stele am 29. Oktober 2022 analog geworden.

Digitalisierte Arbeitskarte aus dem Bestand des Staatsarchivs München von Anna Amborska in der Online-Datenbank
Digitalisierte Arbeitskarte aus dem Bestand des Staatsarchivs München von Anna Amborska in der Online-Datenbank
©https://www.erding-geschichte.de/ arbeitskarten

Ich wollte jenseits der Wissenschaft Sichtbarkeit erzeugen und Lücken aufzeigen. So ging ich wie selbstverständlich auf die traditionsreichen Vereine zu, die auf ihre eigene Art das historische Gedächtnis der ländlichen Region pflegen. Es gibt Heimat-Museen, Heimatpfleger:innen und historische Vereine, die gewisse Geschichtsbilder tradieren, die bei einer kritischen Betrachtung jedoch weder Hand noch Fuß haben. Mit solch reiner Kritik kommt man als Historiker:in nicht weiter. Wo sollte man auch anfangen bei der Vielzahl an verzerrten Darstellungen? Stattdessen habe ich versucht, die eigenen Erzählungen sichtbar zu machen und die Kamera auf die Widersprüche zu richten, ohne sie auszusprechen. Es war nie offensiv konträr gedacht, sondern als Gespräch. Aber ich musste feststellen, dass ich dadurch von vielen Akteuren in der Stadtpolitik häufig als „Querulant“ wahrgenommen werde.

Eigentlich nicht. Natürlich weigern sich Museen und weitere Einrichtungen im Landkreis, die Datenbank zu nutzen und unsere implizite Kritik an den bisherigen Darstellungen zu akzeptieren. Aber Kritik kam überraschenderweise eher von Kolleg:innen. Die öffentliche Verwendung von Täterbildern wurde als kontraproduktiv gesehen. Können Erkennungsfotos den verschleppten Menschen ein wenig Würde zurückgeben? Die Antworten waren unterschiedlich. Aber diesen Widerspruch wollten wir als Team durch eine kritische Einbettung der Objekte wagen.

Das stimmt. Übrigens hat das Projekt fast ein halbes Jahr vor den Arolsen Archives das Erdinger „Digitale Denkmal“ gelauncht – ganz ohne die Hilfe einer multinationalen Unternehmensberatung. Persönlich hat es mich sehr gewundert, wie schnell die Presse von der Datenbank als einem „digitales Denkmal“ gesprochen hat. Das war eine Fremdzuschreibung der Medien, die ich gern aufgriff, da die Ehrenamtlichen in den Namen und Gesichtern das Potenzial sahen, die Würde der NS-Opfer wiederherzustellen. Faktisch würde ich sogar sagen, dass die Datenbank sogar eine stärkere Wirkung als ein physisches Denkmal hat, um ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu fördern. Wenn man seinen Familiennamen oder Vorfahren im Internet sucht – und wer tut das nicht? –, stößt man dabei auf die Einträge in der Datenbank. Sie liefert konkrete Ergebnisse für die Suche und vermittelt den Kontext – das kann ein physisches Denkmal nicht.

Karte mit der räumlichen Verteilung (rot markiert) der Zwangsarbeiter:innen im Landkreis Erding
Die räumliche Verteilung der erfassten 4.500 Zwangsarbeiter:innen im Landkreis Erding
©OSM und QGIS

Da ist das Erdinger Land kein Sonderfall. Wir sollten uns wundern, immer wenn das Gegenteil der Fall ist. Hier lag es einfach daran, dass das sporadisch vorhandene Wissen um den benachbarten militärischen Fliegerhorst nicht genügend beachtet und kontextualisiert wurde. Viele Chroniken sprechen schon von den Plünderungen nach der Befreiung, den französischen, serbischen und polnischen Zwangsarbeiter:innen, aber lange Zeit fehlte die eindrückliche Darstellung der Systematik vor Ort. Viele Einheimische wissen auch um Einzelschicksale in den Dörfern und auf den Bauernhöfen. Diese Lücke füllten die Online-Dokus und die eindrücklichen Karten und Erkennungsfotos, die anhand der Daten erstmals gefertigt werden konnten. Fachlich haben wir das Rad nicht neu erfunden, sondern nur den Menschen nähergebracht.

Unwissen setzt sich fort. Wenig Interaktionsmöglichkeiten zwischen ehemals sowjetischen Zwangsarbeiter:innen und den Einheimischen verstärkten die Kluft. Ebenso hatten vor allem polnische Zwangsarbeiter:innen in den Familienerzählungen häufig keinen Namen, während die französischen Kriegsgefangenen oftmals Bilder hinterließen oder sogar später als Touristen zurückkamen. Dieses Desinteresse an den östlichen Nachbarn hat eine lange Tradition, die bis heute anhält.

Der österreichische Schriftsteller Robert Musil träumte bereits in den 1930er-Jahren von sich bewegenden Denkmälern, die mit den Betrachtern interagieren konnten. Hier hat der Künstler Wolfgang Fritz eine kleine PV-Anlage auf dem Dach installiert, sodass bei Dämmerung und Morgenröte die vier Gesichter der Zwangsarbeiter:innen beleuchtet werden. Passanten sind damit eingeladen, einen Blick durch die kleinen Fensterscheiben auf einige der Kinder, Frauen und Männer zu werfen, die in unmittelbarer Nähe arbeiten mussten. Diese stehen stellvertretend für viele Hunderte.

Partizipative Projekte sind Trial-and-Error-Verfahren. Man weiß nicht, was gut und weniger gut laufen wird. Bei uns hatten wenige Personen Lust, Interviewformulare mit den Eltern oder Nachbarn zum Thema Zwangsarbeit auszufüllen. Aber die Ehrenamtlichen waren fasziniert von den etwa 2.200 Erkennungsfotos der polnischen und sowjetischen Menschen auf den Arbeitskarten. Ohne ihre Impulse hätten wir niemals das Crowdfunding gestartet und die Bilder digitalisiert oder die öffentliche Kunstaktion initiiert, 400 Karten auf A4 zu drucken und auf dem Schrannenplatz in Erding zu zeigen. Fachlich wäre ich vielen Aktionen abgeneigt gewesen, aber die Gespräche und die Reaktionen der Ehrenamtlichen waren immer der beste Kompass, um von einer Aktion zur nächsten zu gelangen. Im Nachhinein würde ich vor allem die Kampagnen in den Sozialen Medien besser planen und beispielsweise sogar TikTok nutzen, denn die Zielgruppe der Jugendlichen war nur schwer zu erreichen. Aber ich hätte nie gedacht, dass es so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Als Historiker:innen haben wir noch viel zu lernen in diesem Bereich.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.

Der Historiker Dr. Giulio Salvati hat das Projekt geleitet und ist überzeugt, dass die Zivilgesellschaften das Potenzial haben, historische Narrative nachhaltig verändern zu können. Salvati ist in Rieti (Italien) geboren und in Erding aufgewachsen. Nach dem Studium der Politik und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat er den M.A. in Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der Friedrich-Schiller-Universität Jena abgeschlossen. In den USA hat er an der University of California, Berkeley studiert und kürzlich einen M. Phil. sowie einen Ph. D. an der New York University abgeschlossen. Zurzeit ist er als Bildungsreferent bei der Katholische Akademie des Bistums Fulda tätig.


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