Buchenwald

Im Bann des Bösen: Die Biographie Ilse Kochs als deutsche Gesellschaftsgeschichte

Ein Gespräch mit der Historikerin Alexandra Przyrembel

Verschiedene Gründe haben mich dazu bewogen, das Kapitel Ilse Koch für mich noch einmal aufzuschlagen. Die Fragestellung hat sich in dieser Zeit verändert. Ich konnte mich stärker als damals von der moralischen Erzählung lösen, die in der Öffentlichkeit bis heute präsent ist. Dabei wollte ich die Geschichte der Figur Ilse Koch in den unterschiedlichen Phasen der deutschen Geschichte rekonstruieren. In dem Buch hat die Figur Ilse Kochs die Funktion einer Sonde, d. h. durch sie werden die einzelnen Phasen der deutschen Geschichte genauer in den Blick genommen: das Ende der Weimarer Republik, als Ilse Koch in die NSDAP eintrat, sowie ihr Leben als SS-Ehefrau beim Konzentrationslager Buchenwald zu einer Zeit, in der sich das nationalsozialistische Regime konsolidierte, aber auch die Nachkriegszeit samt der Prozesse 1947 und 1950/51. Ich argumentiere dafür, dass die Nachkriegserzählung über Ilse Koch in eine Entlastungserzählung über ‚deutsche‘ Schuld mündete. Dies mag aus heutiger Sicht vielleicht nicht ganz überraschend sein, allerdings ist eine solche Deutung Ilse Kochs ‚sagbarer‘ als noch in den späten 1990er-Jahren, als ich mit meinen Recherchen zu ihr begann.

Mittlerweile liegen sehr gute Studien zur Geschichte von Frauen in der NSDAP und insgesamt zur Forschung zu Tätern und Täterinnen vor, die unsere Kenntnis über die nationalsozialistische Gewalt fundamental erweitert haben. Im Gegensatz zur Materialdichte über Ilse Kochs Biographie nach 1945 liegen nur wenige Materialien vor, die uns eine Annäherung an ihre Beweggründe ermöglichen, der NSDAP und dann mit der Heirat des späteren Kommandanten des KZ Buchenwald, Karl Otto Koch, auch dem SS-Orden beizutreten. Das vorhandene Material dazu ist allerdings eindeutig. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Frauen (und Männer) im Deutschen Reich entschied sich Ilse Koch früh für die Mitgliedschaft in der NSDAP. Als Parteimitglied Nr. 1.130.836 trat sie bereits am 1. Mai 1932 und damit ein Dreivierteljahr vor der nationalsozialistischen Machtübernahme als eine von wenigen Frauen in die NSDAP ein, nachdem sie einen Monat zuvor ihren Mitgliedsbeitrag von 2,50 Reichsmark entrichtet und einige kleinere Beträge an die SA gespendet hatte. Für den Parteieintritt war die Entrichtung dieser Gelder verpflichtend, gleichzeitig bestätigte sie mit ihrer Aufnahmeerklärung, „deutscher – arischer – Abstammung“ zu sein und keiner „Freimaurerloge“ oder sonst einem „Geheimbunde“ anzugehören. Zwei Parteimitglieder unterzeichneten als Bürgen die Aufnahmeerklärung in der NSDAP. Auch im Kontext der SS-Heirat bescheinigten Bürgen Ilse Koch eine ‚nationale Gesinnung‘, von der sie selbst im Rahmen der späteren Prozesse spricht. Frauen engagierten sich also bereits während der Weimarer Republik für rechtsextreme bzw. völkische Vereine und Parteien. Die Veranstaltungen weiblicher NS-Funktionäre waren in Dresden bereits am Ende der Weimarer Republik gut besucht, wo Ilse Koch zu diesem Zeitpunkt lebte.

Über den Alltag der Familien in der SS-Führersiedlung wissen wir wenig, ebenso wie über die Werte, die diese Familien ihren Kindern weitergaben. Zum Leben der Familie Koch in der SS-Führersiedlung liegen – abgesehen von den Zeugenaussagen – lediglich einige wenige Objekte und mehrere Fotoalben vor. Bei den beiden Objekten handelt es sich um eine sogenannte Sippenwiege und um ein Fotoalbum, das Karl Otto und Ilse Koch für ihren Sohn Artwin anlässlich seiner Geburt am 17. Januar 1938 anlegten, das einen – wenngleich visuell inszenierten – Eindruck des Lebens der SS-Familie auf dem Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald gibt. (Die handgezeichnete Rune – die vermeintliche Lebensrune Elhaz – ist dem Datum von Artwins Geburtstag auf dem ersten Blatt vorangestellt, womit das Album die Organisation der SS als Sippenverband unterstreicht.) Andererseits folgt das Album einer ‚bürgerlichen Erzählung‘: So wird das Leben der SS-Familie als Aufstiegsgeschichte erzählt, die Bilder des Hauses oder auch des Gartens versinnbildlichen dies. In dem Album verschmelzen m. E. die ‚Normalität‘ und die strukturelle Gewalt, mit der die SS-Familien in der für sie erbauten SS-Führersiedlung ihren Alltag ausfüllten. Die Fotografien des Zoos, den sich die SS unmittelbar neben dem Stacheldrahtzaun des Häftlingslagers errichten ließ, illustrieren diese Dialektik besonders. Zwar zeigt das Fotoalbum die Familie Koch, aber letztlich lässt sich diese Dualität aus ‚Normalität‘ und Gewalt ebenso an anderen Täterbiographien und ihren Familien (wie etwa Rudolf Höß, des Lagerkommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz) festmachen.

Diese Frage zielt darauf ab, ob Ilse Koch ‚schuldig‘ geworden ist und gewalttätig handelte. Zu ihrem Gewalthandeln lässt sich sagen, dass Ilse Koch Häftlinge in den Arbeitskommandos des SS-Bereiches antrieb und ihre ‚Bestrafung‘ durch die SS veranlasste. Dies konnte auch den Tod für den betreffenden Häftling zur Konsequenz haben. Ansonsten halte ich die Frage nach dem ‚eigenmächtigen‘ Handeln für irreführend. Viele Forschungen haben herausgearbeitet, dass es ein spezifisches Merkmal der Gewalt im Konzentrationslager war, dass diese an sich ‚eigenmächtig‘ und ‚willkürlich‘ war. Ilse Koch bewegte sich also einerseits innerhalb dieser Regeln und verstieß als SS-Ehefrau andererseits gegen genau diese Regeln.

Es ist eindeutig nachgewiesen, dass menschliche Häute, die Tätowierungen hatten, von der SS ‚gesammelt‘ wurden. Die Motive hierfür waren unterschiedlich: Die Kategorisierung tätowierter Häftlinge mit den Instrumentarien der Kriminologie, die sich bereits um 1900 verbreiteten, erfolgten von dem SS-Arzt Wagner in Buchenwald im Rahmen seiner bei der Universität Jena eingereichten Dissertation. Von Buchenwald wurden allerdings auch tätowierte Häute zu ‚Schulungszwecken‘ versandt. Auch gegen Ilse Koch hat es entsprechende Vorwürfe gegeben, doch es ist nach dem bisherigen Kenntnisstand nicht belegt, dass sie menschliche Häute zu Alltagsgegenständen ,verarbeiten‘ ließ. Zeitzeugen berichteten ebenso, dass ein Lampenschirm zu Kochs Geburtstag angefertigt worden war, der wenig später wieder verschwand. Dies hat Harry Stein, Experte für die Geschichte des KZ Buchenwald und bis 2022 Mitarbeiter der Gedenkstätte, aufgearbeitet. Tatsache ist auch, dass der Laborbericht der amerikanischen Armee im Mai 1945 drei im Konzentrationslager Buchenwald gefundene Hautstücke menschlicher Herkunft identifizierte und deren Tätowierungen beschrieb. Diese Dokumente habe ich in den National Archives eingesehen und auch die anderen Kontexte konnte ich mit Hilfe von Dokumenten aus der NS-Zeit belegen.

Ilse Koch

Die 1906 als Ilse Köhler in Dresden geborene Sekretärin heiratete 1936 Karl Otto Koch. In Buchenwald lebten sie in der SS-Siedlung I auf der Südseite des Ettersberges. Die Albumseiten zeigen auch ihre Kinder Artwin (1938–1964) und Gisela (1939–2021). Angeklagt wegen Korruption, wurde Karl Otto Koch am 5. April 1945 von der SS exekutiert, seine Frau war ebenfalls vor einem SS- Gericht angeklagt. Als Kriegsverbrecherin verhaftet, folgten für Ilse Koch Prozesse vor einem US-amerikanischen Militärgericht und einem deutschen Geschworenengericht. Zu lebenslänglich verurteilt, verübte sie 1967 Suizid.


Im Bann des Bösen. Ilse Koch – ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933 bis 1970.
Alexandra Przyrembel, Frankfurt a. M. 2023

 

Die Prozesse sind Ausdruck von Gerichtsverfahren in drei verschiedenen politischen Kontexten. Ihre Analyse ist somit auch ein spezifischer Aspekt der Gesellschaftsgeschichte, die Gegenstand des Buches ist. Der erste Prozess ist interessant, da von der SS ein Sondergericht geschaffen wurde, um Verbrechen der SS – vor allem auch die von Karl Otto Koch – aufzuarbeiten. Dies betrifft vor allem die Frage der Korruption und Bereicherung, für die auch Ilse Koch angeklagt war. Dies konnte allerdings – obwohl sie nachweislich über Vermögen verfügte – im Rahmen des Prozesses letztlich nicht nachgewiesen werden. Bemerkenswert ist die Rolle der SS-Richter, die sich darum bemühten, dieses Verfahren nach 1945 für ihre Entlastung zu instrumentalisieren. Von dem SS-Prozess sind nur wenige Materialien erhalten, weshalb die konkrete Argumentationslinie des Gerichts nicht ganz deutlich ist. In jedem Fall überlagern sich auch hier unterschiedliche Narrative über NS-Verbrechen. Das amerikanische Militärgericht in Dachau wiederum verurteilte die SS-Führer des Konzentrationslagers Buchenwald zu hohen Haftstrafen bzw. in einzelnen Fällen auch zu Todesurteilen. Sie waren wegen des ‚common design‘, des gemeinsamen Plans, der in Buchenwald begangenen Verbrechen angeklagt. In meinem Buch frage ich auch insgesamt nach den ‚amerikanischen‘ Dimensionen des Ilse Koch-Themas und vor allem nach der Rolle des amerikanischen Senatsausschusses, der die Urteilsrevision der Strafe Ilse Kochs von einer lebenslangen in eine vierjährige Haftstrafe aufarbeitete. Insgesamt haben die ‚Medien‘ – Wochenschauen, Zeitungen – eine besondere Bedeutung für die Dynamisierung des Falles Koch, die nun nicht mehr als SS-Ehefrau, sondern als sogenannte Hexe von Buchenwald wahrgenommen wurde. Das ist auch in emotions-historischer Hinsicht interessant. Mit dem Augsburger Prozess gegen Ilse Koch wiederum verschiebt sich nochmals die Bedeutung ihrer öffentlichen Wahrnehmung. Die frühen 1950er-Jahre sind hinsichtlich der Erinnerungspolitik besonders interessant, da im Gerichtssaal ausgehandelt wurde, wer sich als Opfer und wer sich als Täter:in sehen durfte. Vor allem auch die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald stellten keine kohärente Gruppe dar, sondern sie vertraten Einzelinteressen. Auch mussten sie im Gerichtssaal ihre Erlebnisse erneut schildern und gleichsam wieder durchleben.

Ilse Koch kämpfte gegen ihre Inhaftierung und verfasste u. a. Briefe, in denen sie mit ihrer Verurteilung und dem lebenslangen Gefängnisaufenthalt haderte, ferner reichte sie Gnadengesuche ein. Hierbei hatte sie Unterstützung von zahlreichen Personen – vor allem von der am 15. November 1951 in Wolfratshausen von ehemaligen NS-Funktionären und Anhänger:innen gegründeten sogenannten Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e. V.. Dieser Verein verfolgte das Ziel, „in stiller tätiger Hilfe allen denjenigen [zu] helfen, die infolge der Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit durch Gefangennahme, Internierung oder ähnliche, von ihnen persönlich nicht zu vertretende, Umstände ihre Freiheit verloren hatten“. In dem letzten Teil meines Buches (‚Leugnen‘) zeige ich, wie Ilse Koch die ihr zur Last gelegten Gewaltakte umdeutete. Daraus leiten sich Fragen zur Erinnerung im Nachkriegsdeutschland ab: Was bedeutet dies für eine sich demokratisierende Gesellschaft, wenn das Wissen über die Verantwortung von NS-/SS-Frauen von diesen so umgedeutet wird, dass ihr Handeln allenfalls als privates Versäumnis erscheint? In dieser Weise sind Erinnerung und (Ver-) Schweigen miteinander verzahnt.

Ilse Koch nutzte und gestaltete die ihr gegebenen Handlungsoptionen – sie versprach sich mit ihrem Eintritt in die NSDAP und der Heirat mit dem SS-Kommandanten Karl Koch eine Karriereoption, die mit ihrer Weltanschauung korrespondierte. In dieser Hinsicht sollte die Ehe der Kochs nicht nur im Sinne des SS-Familienideals interpretiert werden, sondern eben auch – und dies ist natürlich angesichts der von beiden ausgeübten Gewalt bedrückend – als lange Zeit funktionierende Arbeitsbeziehung im SS-Staat. Angesichts der Stilisierung Kochs zum absolut Bösen hatte die öffentliche Aufarbeitung ihres Falls auch die Funktion einer ‚Reinigung‘. In der medialen Betrachtung, die ihre Prozesse nach 1945 begleitete, aber auch in den flankierenden Stellungnahmen dieser öffentlichen Meinung, verkörperte Ilse Koch die extremen Gewaltakte, die in den Nachkriegsgesellschaften zum Synonym für das nationalsozialistische Terrorregime insgesamt wurden. Meines Erachtens hatte die damit einhergehende Reinigung unterschiedliche Facetten: Im Zentrum des öffentlichen Diskurses stand das bestialische Handeln einer Frau, das – wie seine komplementäre Entsprechung, nämlich die vermeintlich anonymen Todesfabriken – die meisten Deutschen entlastete.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.

Die Historikerin Prof. Dr. Alexandra Przyrembel veröffentlichte bereits im Jahr 2001 zu Ilse Koch, ihr Buch liegt seit Frühjahr 2023 im S. Fischer Verlag vor. Seit 2015 ist sie Professorin für die Geschichte der Europäischen Moderne an der FernUniversität in Hagen. Sie hat zum nationalsozialistischen Antisemitismus veröffentlicht. Gegenwärtig schreibt sie an einer (Global-)Geschichte des Vermögens um 1900.


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