Buchenwald

Musikalisches Rätsel einer Quellengattung

KZ-Liedsammlungen als musikalische Quelle und Zeugnis nationalsozialistischer Verfolgung

Liedsammlungen aus Konzentrationslagern stellen eine einzigartige Quelle dar, deren Deutung Rätsel aufgibt: Welche Funktion erfüllten handschriftliche Liedaufzeichnungen für die Gefangenen und welche Aussagekraft kommt ihnen als künstlerisches Zeitzeugnis und (musik-)historische Quelle zu? Diese Fragen waren Anlass für die Durchführung eines Promotionsprojektes an der Universität Osnabrück.

handschriftliche Aufschrift eines Liedes
Liedeintrag in der Liedsammlung des Buchbinders Max Göhrmann, entstanden zwischen 1939 und 1945.
©Gedenkstätte Buchenwald

Allein aus Buchenwald sind mindestens sieben Liedsammlungen überliefert, die von Gefangenen in den Jahren 1938 bis 1945 im Geheimen angefertigt wurden. In Inhalt und Form weisen diese Sammlungen große Unterschiede auf: Schlichten Textaufzeichnungen, die von einzelnen Gefangenen angefertigt wurden, stehen aufwendig gestaltete Kollektivschöpfungen gegenüber, in denen sich neben Liedern auch Instrumentalwerke, Gedichte, Szenen, Notizen, Widmungen, Adressen, Aquarelle, Konzertprogramme, eingeklebte Haftdokumente und Fotografien finden.

Die Liedsammlungen aus Buchenwald enthalten 164 Lieder, darunter 51 KZ-Lieder, die in Konzentrationslagern entstanden sowie 113 Lieder aus anderen Kontexten wie Volkslieder, Lieder der deutschen Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Soldatenlieder, Nationalhymnen, Operettenarien und Filmschlager. Die musikalische Form gestaltet sich vielfältig vom Marsch und der Hymne über das lyrische Lied und den Tango bis hin zur Humoreske und dem Chanson. Jedes Lied erzählt eine Geschichte, die erst vor dem Hintergrund seiner Entstehung, inhaltlichen Aussage, musikalischen Form und tatsächlichen Verwendung im Lager verständlich wird. Die Bedeutung der Liedsammlungen als Quelle und Zeitzeugnis erschließt sich in einem Zusammenspiel von Kontext, Funktion und Deutung.

Vorblatt einer Liedersammlung mit Illustration: Lieder der Gesellen
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Vorblatt der Liedsammlung des politischen Gefangenen Willy Jentsch, entstanden zwischen 1938 und 1945.
Illustrierter Liedeintrag
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Illustrierter Liedeintrag im Künstlerischen Album von Kazimierz Tymiński, 1944.

KZ-Liedsammlungen erfüllten eine Vielzahl von Funktionen, wobei sie an bereits bestehende Gattungstraditionen anknüpften. Sie dienten als Gesangbücher zur gemeinsamen Musizierpraxis und Erinnerungshilfe, als „Tagebücher in Liedern“ zur Verarbeitung des Erlebten und der Selbstvergewisserung, als Kompositionshefte zur Entwicklung und Dokumentation des eigenen künstlerischen Schaffens und als wertvolle Geschenke, deren Besitz mit einem gewissen Prestige verbunden war. Liedsammlungen, die Einträge von Mitgefangenen und ein Nebeneinander unterschiedlicher Formen von Einträgen aufweisen, zeigen eine Nähe zum (Erinnerungs-)Album. Jede Liedsammlung erfüllte meist mehrere Funktionen, sodass eine individuelle Einordnung nötig ist. Den Kollektivschöpfungen aus Buchenwald ist jedoch eines gemeinsam: Sie entstanden nachweislich mit der Absicht, das künstlerische Leben der Gefangenen in den Jahren 1943/44 zu dokumentieren.

Handschriftlicher Aufschrieb der Szene „Sen południowych wód“
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Die Szene „Sen południowych wód“ („Ein Südseetraum“) im Künstlerischen Album von Józef Pribula (2 Blätter), 1944..
Die Szene „Sen południowych wód“ („Ein Südseetraum“): Noten und Illustration
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Die Liedsammlungen aus Buchenwald sind Singulärquellen für 13 KZ-Lieder und eine Theaterszene mit dem Titel „Sen południowych wód“ („Ein Südseetraum“), die im Rahmen des Forschungsprojektes vollständig rekonstruiert wurde. Das aufgezeichnete Liedgut zeugt sowohl von selbstbestimmten als auch fremdbestimmten Formen des Musizierens, denn ein Teil der Lieder wurde auf Befehl der Bewacher gesungen. Insbesondere die Kollektivschöpfungen dokumentieren in einzigartiger Dichte das selbstbestimmte künstlerische Leben der Gefangenen, das nur in einem äußerst begrenzten Rahmen stattfinden konnte. Sie enthalten grundlegende Daten und Fakten zu Konzert- und Varietéveranstaltungen im Lager, wobei sich die parallel geführten Einträge mosaikartig zu einem Gesamtbild des künstlerischen Lebens der Gefangenen zusammenfügen. Unterschriften und Widmungen von 232 Personen aus 14 Nationen ermöglichen überdies die Rekonstruktion eines internationalen Künstlernetzwerks.

Die Liedaufzeichnungen aus Buchenwald sind eng verbunden mit dem biographischen und kulturellen Hintergrund der Liedsammler. Das vorwiegend populäre Liedgut knüpft an Erfahrungen aus Kindheit, Schule, Militär und Theater an. Die Liedtexte in sieben Sprachen verweisen auf die internationalen Gefangenen des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Aufzeichnung der Lieder ist geprägt von persönlichen Vorlieben, individuellen Wahrnehmungsmustern und Selbstbildern, in denen sich zugleich Leitbildeinflüsse der Zeit widerspiegeln. Darüber hinaus bietet das aufgezeichnete Liedgut wertvolle Einblicke in das individuelle und kollektive Erleben des Lageralltags.

Im Umgang mit den körperlichen, psychischen und sozialen Auswirkungen zeichnen sich verschiedene Formen der Bewältigung ab: Das Singen auf eigene Initiative und die Anfertigung von Liedsammlungen sind als ein Akt der Selbstbestimmung zu verstehen. Durch den Rückgriff auf Bekanntes vergewisserten sich die Gefangenen der eigenen Identität und eines vormals gültigen Wertesystems. Das gemeinsame Musizieren stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das diverse Liedgut erfüllte darüber hinaus zahlreiche Funktionen: Lieder mit einem zuversichtlichen Duktus bauten auf, revolutionäre Lieder drückten den Wunsch nach Selbstbehauptung aus und humorvolle Liedtexte halfen, sich vom Erlebten zu distanzieren. Lieder aus unterschiedlichsten Erfahrungskontexten ließen den Lageralltag kurzzeitig vergessen; KZ-Lieder, die im Gedenken an Mitgefangene entstanden, sollten aber auch bewusst an das erlittene Unrecht erinnern.

Die vielfältigen Aussagemöglichkeiten der Liedsammlungen als Quelle und Zeitzeugnis erweisen sich als geeignet, neue Zugänge für eine lebendige Gedenkkultur zu schaffen. Den Liedsammlungen aus Buchenwald kommt entsprechend ihrer (musik-)historischen Aussage eine zentrale Rolle als Quelle zu, da sie einzigartige Informationen zur Musikgeschichte Buchenwalds bereitstellen und bisher unbekannte KZ-Kompositionen überliefern. Die Auseinandersetzung mit diesen Quellen schafft ein tiefergehendes Verständnis für Handlungsbedingungen künstlerischer Aktivitäten und musikalische Wirkungsweisen im Lagerkontext. Im Nebeneinander klanglicher, bildlicher und sprachlicher Elemente schaffen die illustrierten KZ-Liedsammlungen einen mehrdimensionalen Zugang, der zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und den künstlerischen Aktivitäten der Gefangenen einlädt. Als Selbstzeugnisse vermitteln sie Innenansichten des Erlebens und der Bewältigung des Lageralltags mit Hilfe von Musik und sind somit ein Sprachrohr in die heutige Zeit, die der Stimme des Einzelnen Gehör verleiht.

Die Musikwissenschaftlerin Christine Oeser promovierte 2023 an der Universität Osnabrück über Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald.

Oeser, Christine (2020): „Ein Lied erklingt, das die Heimat sang“. Liederbücher aus dem Konzentrationslager Buchenwald – Annäherung an eine Quellengattung, in: Helms; Dietrich/Hanheide, Stefan (Hrsg.), Musik in Konfrontation und Vermittlung. Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2018 in Osnabrück, Osnabrück, S. 211–222.

 

Oeser, Christine (2023): Künstlerische Netzwerke im Konzentrationslager Buchenwald, in: Stolarzewicz, Maria (Hrsg.), Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II, Köln 2023, S. 253–279.

 

Oeser, Christine: Liedsammlungen aus Buchenwald. Kontexte – Funktionen – Deutungen (Veröffentlichung inklusive eines begleitenden Liederheftes voraussichtlich Frühjahr 2025).

 

Eine Auswahl der untersuchten Lieder erklang im Konzert „O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen“ in der Reihe musica pro pace. Der Konzertmitschnitt ist online verfügbar.

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