Buchenwald

Zwangsgemeinschaftliche Verflechtungen.

Koloniale Kontexte Buchenwalds Folge 2: Französisch-Westafrika. Baba Diallo

Die Welt des 20. Jahrhunderts war eine kolonial geprägte Welt. Auch in den deutschen Konzentrationslagern befanden sich Menschen aus den damaligen europäischen Kolonien: Kolonisierende und viel mehr noch Kolonisierte. Mindestens 1.000 Menschen mit kolonialen Erfahrungen gerieten in das System des Konzentrationslagers Buchenwald, allein etwa 300 Männer und Frauen aus Algerien waren in Buchenwald und seinen Außenlagern. Lebensgeschichtliche Spuren dieser Menschen weisen auf die Vielheit von Völkern und Regionen hin, die von europäischen Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden als Kolonien beherrscht wurden. In den Ausgaben der „Reflexionen“ sollen – parallel zu einem laufenden Rechercheprojekt und gegliedert nach ehemaligen Kolonien – Fragmente kolonialer Geschichte in ihrem Bezug zur Geschichte Buchenwalds vorgestellt werden. In diesem Heft geht es um Menschen, die in Französisch-Westafrika aktiv waren. Im nächsten Heft: Antikoloniale Akteure im Maghreb. Der Trotzkist David Rousset.

Ende Juli 1939 reiste der französische Kolonialminister Georges Mandel nach Dakar, dem damaligen Zentrum der Afrique-Occidentale française (AOF), der Föderation der französischen Kolonien in Westafrika. Mit Blick auf die angespannte Situation in Europa wollte Mandel dort Soldaten für Frankreichs Armee mobilisieren. Die Rekrutierung von Kolonialsoldaten stellte für ihn wie auch für andere Politiker der Dritten Französischen Republik längst eine Tradition dar, war doch die Militarisierung der afrikanischen Kolonialgesellschaften trotz zahlreicher Widerstände weit vorangeschritten. So war es beispielsweise dem senegalesischen Politiker Blaise Diagne – 1914 der erste Schwarze Abgeordnete, der in die französische Nationalversammlung einziehen konnte – als Kommissar der Regierung für die Rekrutierung von Kolonialtruppen bereits während des Ersten Weltkriegs gelungen, in Französisch-Westafrika 60.000 Soldaten für die Tirailleurs sénégalais, die Senegalschützen, anzuwerben.1

Für seinen Aufenthalt in Dakar hatte sich Georges Mandel beim zuständigen Generalgouverneur der AOF um einen Fahrer bemüht, der gleichzeitig auch Leibwächter und Koch sein sollte. Der Gouverneur vermittelte dem Kolonialminister einen seiner Mitarbeiter, den aus Baraouéli Sylla, einem Dorf unweit der Stadt Segou in Mali (dem damaligen Französisch-Sudan) stammenden Baba Diallo, der 15 afrikanische Sprachen und ebenso Französisch sprach.2 Die Männer lernten sich schnell gut kennen, und als die ministeriale Delegation die Rückreise aus der Kolonie antrat, ging Diallo mit in das sogenannte Mutterland. In Paris wohnte er in direkter Nachbarschaft der Familie Mandel. Viel Zeit blieb Baba Diallo jedoch nicht in der französischen Hauptstadt: Mit der Westoffensive Nazideutschlands brach der Krieg auch in Frankreich aus und angesichts des raschen Vormarschs der deutschen Armee verließen die Mandels und mit ihnen Diallo noch im Mai 1940 Paris. Sie gingen nach Bordeaux, dem provisorischen Sitz der französischen Regierung, wo Mandel von mit den Nazis kollaborierenden Behörden kurzzeitig verhaftet wurde und von dort nach seiner Freilassung sogleich mit seinen engsten Vertrauten und einigen gleichgesinnten Parlamentariern nach Casablanca flüchtete. Sie hofften, von der Kolonie in Nordafrika aus den Widerstand organisieren und den Krieg gegen Deutschland fortsetzen zu können.

Schwarz-Weiß-Foto: Baba Diallo und ein Gendarm nebeneinander
In Urdos 1942: Baba Diallo und ein Gendarm.
©Cercle d‘étude de la Déportation et de la Shoa

Schon einen Monat später, im Juni 1940, wurden infolge des deutsch-französischen Waffenstillstands von Compiègne sechs Zehntel des französischen Territoriums durch die deutsche Armee besetzt und im unbesetzten Teil Frankreichs das eng an Nazideutschland angelehnte Vichy-Regime gebildet. Dieser Kollaborationsregierung mit ihrem neuen Staatschef Philippe Pétain wurden im Waffenstillstandsvertrag die Verfügungsgewalt über bedeutende Teile der französischen Flotte und die Kontrolle über das Kolonialreich belassen. Somit erhielt auch das Naziregime Zugriff auf fast alle französischen Kolonien – mit zusehends fatalen Folgen für deren Gesellschaften. So befanden sich nach der schnellen Niederlage Frankreichs schon etwa 60.000 Soldaten aus Frankreichs Kolonien Ende Juni 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft. Viele von ihnen hatten wenige Wochen zuvor an der Front in Nordfrankreich gekämpft, um den deutschen Überfall abzuwehren. Und bereits im September 1940 traten etwa 4.000 Kolonialsoldaten den Forces françaises libres (FFL) bei, den Freien Französischen Streitkräften, die Colonel Charles de Gaulle aus seinem Londoner Exil nach Abschluss des Waffenstillstands begründet hatte, um den Kampf gegen das Vichy-Regime und Nazideutschland weiterführen zu können. Als sich der kapitulationsähnliche Waffenstillstand im Juni 1940 abzeichnete, hatte de Gaulle die französischen Kolonien aufgerufen, ihn zu unterstützen: Im August 1940 schlossen sich Französisch-Äquatorialafrika (AEF) und Kamerun unter Félix Eboué, dem Gouverneur des Tschad, als Erste der France Libre an.

Nachdem Pétain und sein Ministerpräsident Pierre Laval mit der Verfassungsreform Mitte Juli 1940 die Dritte Republik beendet und das reaktionäre Vichy-Regime etabliert hatten, galten die in die nordafrikanische Kolonie exilierten Parlamentarier als Landesverräter.3 Anfang August 1940 wurde Georges Mandel in Französisch-Marokko festgenommen. Anklagen und Prozesse folgten, schließlich im November 1941 Mandels Verurteilung zu lebenslanger Haft und seine Inhaftierung im Gefängnis Fort du Portalet. Seine Angehörigen und Baba Diallo wohnten derzeit im nahe gelegenen Dorf Urdos. Ende November 1942 – die Alliierten waren indes in Französisch-Nordwestafrika gelandet, womit das Vichy-Regime seine Kontrolle über die Kolonien verloren und eine enorme Mobilisierung von Kolonialsoldaten für die alliierten Truppen begonnen hatte – wurden Georges Mandel und Baba Diallo nach Bordeaux gebracht, in der Nähe von Tours getrennt und Diallo im Sammellager Royallieu unweit von Compiègne inhaftiert. Dort traf er auf weitere Männer aus Französisch-Westafrika, zum Beispiel auf den senegalesischen Künstler Fernand Diodhion. Aber auch Männer aus anderen Kolonien begegneten ihm in Royallieu, so der erste Schwarze Bürgermeister Frankreichs, Raphael Elizé aus Martinique. Beide waren wegen ihres Engagements in der Résistance verhaftet worden. Mitte Januar 1944 wurde Baba Diallo zusammen mit Diodhion, Elizé und weiteren 1.940 Männern per Bahn in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. In Buchenwald sperrte ihn die Lager-SS zunächst „in Quarantäne“ in Block 59 im Kleinen Lager, dann in Block 45 im Hauptlager. Dort starb Baba Diallo im Oktober 1944 im Alter von 30 Jahren an den Folgen von Deportation und brutaler Lagerhaft – in den SS-Verwaltungsdokumenten wurde „Lungentuberkulose“ als Todesursache vermerkt.

Baba Diallos „Häftlings-Personal-Karte“
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Mit den Kürzeln „A.O.F.“ (AfriqueOccidentale française) und „F“ kolonial und national registriert: Baba Diallos „Häftlings-Personal-Karte“
Das „Standesamt Weimar II. Post Weimar-Buchenwald“ einen Monat nach Baba Diallos Tod
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Das „Standesamt Weimar II. Post Weimar-Buchenwald“ einen Monat nach Baba Diallos Tod, 14. November 1944.

Fernand Diodhion hatte die SS Ende April 1944 aus Buchenwald zur Zwangsarbeit in das Außenlager Dora und dann in das Außenlager Ellrich-Juliushütte verschleppt, wo sich seine Spur verliert. Raphael Elizé, der als Buchenwald-Häftling im Gustloff-Werk in Weimar Zwangsarbeit leisten musste, kam am 9. Februar 1945 bei der Bombardierung dieses Werks ums Leben. Noch mindestens sieben weitere Menschen aus Französisch-Westafrika gerieten 1944 zumeist als Résistance-Angehörige nach Buchenwald und fast alle von ihnen von dort in den Komplex des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora. Auch Baba Diallos ehemaliger Chef Georges Mandel befand sich 1943/44 in Buchenwald, wenn auch nicht im Häftlingslager. Im November 1942 war er an deutsche Gestapo-Beamte übergeben worden, die ihn zunächst in das Lagergefängnis des Konzentrationslagers Sachsenhausen und dann Ende März 1943 nach Buchenwald deportieren ließen. Dort hielt ihn die SS gemeinsam mit weiteren früheren Mitgliedern der französischen Regierung wie Léon Blum und Édouard Daladier als politische Geisel im etwa 600 Meter vom Hauptlager entfernten Falknerhaus fest. Anfang Juli 1944, anderthalb Monate vor der Befreiung Frankreichs, wurde Georges Mandel an Pierre Laval nach Paris ausgeliefert und von dessen paramilitärischer Milice française im Wald von Fontainebleau ermordet.

Dokument: Baba Diallos Citation à l‘ordre de la Nation.
Unterzeichnet vom Vorgänger und Nachfolger Georges Mandels als Kolonialminister, Marius Moutet: Baba Diallos Citation à l‘ordre de la Nation.
©Journal officiel de la République française, 11. August 1946, S. 7121

Ronald Hirte ist Referent der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Buchenwald.

Fußnoten

1 Miot, Claire (2017): Die Kolonialsoldaten des französischen Imperiums, in: https://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/ die-kolonialsoldaten-des-franzoesischen-imperiums (15.10.2023).

2 Togola, Bakary (2016): Baba Diallo, chauffeur de Georges Mandel, déporté à Buchenwald, in: https://www.cercleshoah.org/spip.php?article555&lang=fr (15.10.2023).

3 Zum Bruch zwischen den Anhänger:innen Vichys und denen des Freien Frankreichs, der zusehends in einen innerfranzösischen Krieg im Krieg überging, der wiederum maßgeblich in den Kolonien ausgefochten wurde, vgl. Waechter, Matthias (2019): Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, München, S. 221–286.

4 Togola, Bakary (2016), wie Anm. 2.


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