Buchenwald

Mit Pinsel und Spaten

Visuelle Kommentare zu Zwangsarbeit unter Künstlern des KZ Buchenwald

Viele Zeichnungen, Aquarelle, Skulpturen und andere Artefakte, die von Häftlingen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern angefertigt wurden, zeigen Momente der Arbeit. Schließlich war Zwangsarbeit ein zentrales Ausbeutungs-, Folter- und Mordinstrument der SS und strukturierte den Tagesablauf in den Konzentrationslagern. Die Arbeitsfähigkeit eines Häftlings bestimmte neben Alter, Nationalität und Häftlingskategorie seine Stellung in der Hierarchie unter den Gefangenen. Buchenwaldhäftlinge aus verschiedenen Ländern wie Henri Pieck, Pierre Mania und Auguste Favier, Roman Jefimenko, Flemming Hinsch oder Karol Konieczny dokumentieren die Lagerrealität, um die dortigen Zustände anzuklagen. Kaum eine der zahlreichen Mappen, Serien und Blattsammlungen über das Lager kommt ohne eine Visualisierung der schrecklichen Arbeitsbedingungen aus. Dafür wählten sie oft ähnliche Motive und Kompositionen, verarbeiteten diese aber auf ganz unterschiedliche Art und Weise, wodurch sie die Situation interpretierten.

Häufig versuchten Häftlinge mit ihren Darstellungen der Lager, die Zustände an jene zu vermitteln, die nicht vor Ort waren. Im Folgenden soll es jedoch um Werke gehen, die für andere Häftlinge und nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren. Diese Kunstwerke enthalten zwar Bezüge zu Arbeit, aber versuchen nicht, das Lager oder Zwangsarbeit zu dokumentieren, stattdessen bewerben oder kommentieren sie kulturelle Ereignisse im Lager. Während der Haftzeit bot Zwangsarbeit vielen Häftlingen den Ausgangspunkt für visuelle Reflexionen über die eigene Position innerhalb der Häftlingshierarchie, aber diente auch anderen Zwecken wie humoristischen Kommentaren innerhalb der schrecklichen Realität. Diese verschiedenen Funktionen, die der Verweis auf Zwangsarbeit erfüllte, sollen hier diskutiert werden. Wie setzten Häftlinge, die neben der offiziellen Zwangsarbeit auch künstlerisch tätig waren, sich und ihr Werk ins Verhältnis zur Zwangsarbeit im KZ Buchenwald?

Zur Annäherung an diese Frage betrachte ich Werke aus dem Jahr 1944, als die „Arbeitsfähigkeit“ eines Häftlings oft über Leben und Tod entschied. Im KZ Buchenwald gab es in den ersten Jahren nach 1937 diverse Arbeitskommandos (wie das Malerkommando oder die Bildhauerei), in denen die SS die Fähigkeiten ausgebildeter Künstler ausbeutete.1 Nach der Wende des Zweiten Weltkrieges in Stalingrad 1943 nahm die Bedeutung von Zwangsarbeit für den Krieg zu und auch Künstler-Häftlinge mussten größtenteils für die Kriegswirtschaft arbeiten. In dieser Zeit verbreitete sich die Hoffnung auf ein Ende der Gefangenschaft und Häftlinge begannen in Buchenwald unter den Augen der SS künstlerische und kulturelle Veranstaltungen zu organisieren. Unter diesen Bedingungen entstanden die folgenden Kunstwerke.

1941 eröffnete die SS zu „Umerziehungszwecken“ im KZ Buchenwald ein Kino. 1943 begannen politische Häftlinge den Ort mit Erlaubnis der SS für Konzerte und kulturelle Veranstaltungen zu nutzen.2 Etwa ein Jahr vor der Befreiung des Konzentrationslagers, am 16. April 1944 – einem Sonntag, dem einzigen arbeitsfreien Tag im KZ –, führte Bruno Apitz (1900–1979) dort eine Kabarettszene auf. Der deutsche politische Häftling wurde später als Autor des Romans Nackt unter Wölfen (1958) weltberühmt Das Stück handelte von einem „untauglichen“ Häftling, der den ihm vorgesetzten Mithäftling, den sogenannten Kapo, in einer Reihe von Slapstick-Szenen austrickste.3 Dass der Häftling eigentlich bei Kräften war und nur vorgab, schwach zu sein, war die Pointe des Stücks und löste Gelächter im Zuschauerraum aus. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Mitgliedern und Freunden des klandestinen Internationalen Lagerkomitees (ILK) sowie SS-Angehörigen.4 Die Widerstandsorganisation, an deren Spitze der deutsche Kommunist Walter Bartel (1904–1992) stand, prägte die Kulturszene in Buchenwald.5 Als langjähriger Häftling und Kommunist gehörte Apitz zum Umfeld des ILK und wirkte an der Organisation der Kulturveranstaltungen mit.

Zeichnung eines Häftlings von Bruno Apitz
Abb. 1: Bruno Apitz „Naja“, 1944, Kohlezeichnung, in: Album von Józef Pribula.
©Kunstsammlung der Gedenkstätte Buchenwald, V 1347 L

Zum Andenken an die beschriebene Aufführung entstanden zwei sich stark ähnelnde Kohlezeichnungen, die Apitz kostümiert zeigen (Abb. 1). Die Zeichnungen wurden in sogenannten künstlerischen Alben von Józef Pribula (1919–1984) und Kazimierz Tymiński (1915–1989) überliefert, die beiden Kommunisten gehörten in Buchenwald ebenfalls zum Umfeld des ILK. Neben Liedern, Dokumentationen kultureller Events, Adresssammlungen und Tagebucheinträgen enthalten diese Alben auch zahlreiche Zeichnungen und Illustrationen. Wenn wir uns die Zeichnung von Apitz bei dem Theaterstück in Buchenwald genauer ansehen, werden einige interessante Details sichtbar. Es ist wahrscheinlich, dass es sich bei den Zeichnungen um Selbstporträts handelt, doch die Urheberschaft ist nicht restlos geklärt.7 Auf der vertikalen Seite ist eine männliche Figur im Dreiviertelprofil ohne Vorder- oder Hintergrund dargestellt. Sie trägt einen lächerlich übergroßen Häftlingsanzug, eine kleine Häftlingsmütze liegt lose auf dem kahlgeschorenen Schädel und sie hat eine übergroße runde Brille auf der Nase. Ihr Kopf, der auf einem ausgemergelten, langen Hals ruht, ist leicht nach vorne geneigt, und eine vorgeschobene Unterlippe verleiht seinem Gesicht einen apathischen, stumpfen Ausdruck. Das Werk ist in der rechten unteren Ecke betitelt: „Bruno Apitz ‚Naja‘“ – ein Verweis auf das Couplet „Klagelied eines Häftlings“, welches Teil des Stücks war und ebenfalls in den Alben festgehalten wurde.

Wie auf der Zeichnung unschwer zu erkennen ist, war Apitz für die Aufführung als ein nicht-privilegierter Häftling verkleidet: Er verdeckte sein Haar, trug einen übergroßen Anzug und setzte eine Brille auf, um einen Intellektuellen oder einen Dichter zu spielen.8 Bemerkenswert ist, dass er keinen rassistisch verfolgten Häftling spielte, sondern einen Nicht-Arbeiter. Sogenannte arbeitsfähige Häftlinge stellte die SS denjenigen gegenüber, die nicht arbeiten konnten. Die Punchline dieser Slapstick-Aufführung war der Bruch mit den Erwartungen, wer zu welcher Kategorie von Gefangenen gehört.9 Humoristisch stellten die Häftlinge die Lagerrealität dar und grenzten sich dabei von den Schwächeren ab, wodurch sie ihre Stellung im Lager reflektierten. Dieser Humor spielt mit einer bizarr anmutenden Reproduktion der Regeln der SS und kommentiert zynisch die Verhältnisse. Später beschrieb Apitz, wie er versuchte, während der Aufführung Charlie Chaplin zu imitieren und damit kulturkritische Strömungen aus der Vorkriegszeit im Lager aufzugreifen, um die Moral seiner politischen Kameraden zu stärken.10 Diese Inszenierung zeugt von der Gleichzeitigkeit von kulturellen Kontinuitäten und beispiellosen Ereignissen im Lager. Häftlinge griffen (mal bewusst, mal unbewusst) auf kulturelle Vorbilder und Rahmenthemen zurück, um ihre Erfahrungen während der Internierung zu begreifen und an andere zu vermitteln.

Indem Apitz einen scheinbar nicht-arbeitsfähigen Häftling verkörperte, spielte er mit der Gefahr, einer dieser Anderen zu werden, einer der so genannten Muselmänner. Dieser Begriff aus dem Lagerjargon bezeichnet Häftlinge zwischen Leben und Tod, die in der Hierarchie meist ganz unten standen.11 Letztendlich thematisierte Apitz die Todesangst der Häftlinge, unter denen selbst jene litten, die das Privileg genossen, an den Sonntagskonzerten teilnehmen zu können. Die Tatsache, dass die meisten Künstler in Buchenwald wie Apitz dem linken politischen Spektrum zuzuordnen waren, wirft Fragen nach der Rolle ihrer Ideologie und ihrer Stellung in der Lagerhierarchie auf. Inwiefern manifestiert sich das kommunistische Arbeitsideal in den Zeichnungen aus dem KZ Buchenwald? Und welche kulturellen Einflüsse und künstlerischen Traditionen haben diese Darstellungen jeweils geprägt?

Auf den ersten Blick scheint die bloße Existenz von Theateraufführungen, Zeichnungen und künstlerischen Alben von Häftlingen im KZ Brüche im Bild von diesem Ort des Schreckens zu erzeugen. Kunst und Kultur im Lager galten unter kommunistischen Überlebenden als Beweis für die Überlegenheit der Häftlinge über die SS, als Beleg, dass die Häftlinge als Kollektiv ihre Menschlichkeit bewahrt hätten. So äußerte sich der ehemalige Häftling Herbert Gute (1905–1975) wie folgt über die Zeichnungen des wohl berühmtesten Künstlers aus dem KZ Buchenwald Boris Taslitzky (1911–2005): „Vielleicht sind seine Zeichnungen keine große Offenbarung. Aber darauf kommt es ja überhaupt nicht an. Solange einer etwas Menschliches tut, solange er für andere Menschen empfindet, wird er nicht zum Muselmann.“12

Internationale Forscher:innen interpretieren kulturelle Aktivitäten im Lager in Anknüpfung an Miriam Novitch (Mitbegründerin des israelischen Ghetto Fighters House) bis heute in diesem Sinne oft als geistigen Widerstand oder Selbstbehauptung. Wie in Herbert Gutes Kommentar zu den Arbeiten von Boris Taslitzky bereits anklingt, geht es in dieser Lesart weniger um die Bildaussage, sondern um die Würdigung der Tatsache, das überhaupt etwas angefertigt wurde. Diese Position impliziert, im KZ sei – durch die Kunst – etwas wahrhaft Menschliches hervorgetreten. Doch bereits 1992 wies der Historiker Michael Zimmermann darauf hin, dass Kunst aus den KZs mehr sei als eine „Antipode zur Shoah“.13 Kunst aus KZs ist aufs engste mit den Bedingungen ihrer Entstehung verbunden: auf der Ebene der Urheber (wer kam überhaupt in die Position, Kunst zu schaffen?), des Materials (welches Material stand wem zur Verfügung?) und der Darstellung (welche Orte konnten aus welcher Perspektive wie dargestellt werden?).

Im KZ Buchenwald kamen fast ausschließlich Häftlinge, die sich selbst als antifaschistische Widerstandskämpfer begriffen oder mit diesen zusammenarbeiteten, in die Position, Kunst zu schaffen. Die eindimensionale Kategorisierung ihrer Kunst als Ausdruck von Menschlichkeit und Selbstbehauptung verstellt den Blick auf die Vielfalt der künstlerischen Artefakte aus dem Lager. Auch wenn die politische Überzeugung der Urheber sich in denWerken manifestiert, determiniert sie sie nicht. Zahlreiche Faktoren wie die Zielgruppe und Auftraggeber, das zur Verfügung stehende Material, Ort und Zeit der Herstellung oder die künstlerische Ausbildung prägen die Werke auf je eigene Weise. Es gilt die Bilder als Bilder ernst zu nehmen und mit kunsthistorischen Methoden zu analysieren und nicht bloß als Ausdruck von Menschlichkeit oder Ideologie anzusehen.

Zeichnungen von Paul Goyard: Plakatentwurf
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Abb. 2 u. 3: Paul Goyard, [Plakatentwurf], [1944], Bleistift auf Papier, 10,2 x 6,3 cm.
Plakatentwurf von Paul Goyard
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Abb. 2 u. 3: Paul Goyard, [Plakatentwurf], [1944], Bleistift auf Papier, 10,2 x 6,3 cm.

14Paul Goyard (1886–1980), ein Künstler und Bühnenbildner französischer Herkunft, zeichnete im Herbst 1944 einen Entwurf für ein Ausstellungsplakat auf den 10 x 6 cm großen Zuschnitt eines Formulars aus dem Gustloff-Werk, wo die Buchenwald-Häftlinge zum Arbeiten in der Rüstungsindustrie eingesetzt wurden (Abb. 2 und 3). In der oberen Hälfte des kleinen Blattes trägt eine formalisierte Figur eine Malerpalette in der rechten Hand und eine Mappe unter dem Arm. In der linken Hand hält sie eine aufgestellte Schaufel, die von einer Spitzhacke gekreuzt wird. In der oberen rechten Ecke ist das Datum der Ausstellung angegeben: „DIM / 19 / NOV“. Im Jahr 1944 war der 19. November ein Sonntag (dimanche auf Französisch). In der Mitte der Skizze steht: „Exposition / de / Peinture v./ Dessins!“ (Ausstellung von Gemälden [und] Zeichnungen!). Darunter etwas kleiner, dass sie im Lager im „Salle du Weselbad“ ausgerichtet worden sei, was sich vermutlich auf das Wechselbad im Krankenrevier bezieht.15 Goyards jüngerer Freund und Mithäftling José Fosty (1919–2015) berichtete von zwei ähnlichen Veranstaltungen: einer „Matinée“ am 17. September 1944 und einem „große[n] Fest“ am 17. Dezember, die beide an Sonntagen im französischen Block 34 stattfanden. Als Mitglied einer Gruppe französischer Künstler war Goyard an beiden Veranstaltungen beteiligt.16 Fosty erklärte, dass Goyard „gewissermaßen der offizielle Dekorateur des französischen Komitees“ war17 – was darauf hindeutet, dass die auf dem Plakat beworbene Ausstellung tatsächlich stattgefunden haben könnte.

Goyard war bereits in den 1930er-Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. 1942 wurde er verhaftet, weil er die Wohnung gemietet hatte, in der die illegale kommunistische Zeitschrift L‘Art français, die kommunistische Künstler wie André Fougeron (1913–1998) herausgaben, gedruckt wurde.18 Goyard wurde daraufhin in Compiègne interniert und nach Buchenwald deportiert, wo er am 14. Mai 1944 ankam. Nach einigen Wochen im Quarantänebereich, dem sogenannten Kleinen Lager, kam er in Block 40 des Hauptlagers, wo viele langjährige kommunistische Häftlinge untergebracht waren. Dort genoss Goyard, wie Volkhard Knigge es formulierte, „vermutlich den Schutz des Illegalen Internationalen Lagerkomitees“.19 Ihm zufolge war Goyards Position „eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß er im Lager überhaupt zeichnen konnte“.20 Die Planung dieser Kunstausstellung unterstreicht, dass neben den persönlichen Verbindungen zum ILK, die oft auf gemeinsamen politischen Überzeugungen beruhten, auch Beziehungen zu anderen Künstlern für die Kunstproduktion im Lager von großer Bedeutung waren.

Skizze von einem gesichtslosen Mann mit Schaufel und Malerplatte von Paul Goyard
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Abb. 4: Paul Goyard, o.T., [1944], Bleistift auf Papier, 21 x 14,6 cm.
Skizze eines gesichtslosen Mannes mit Schaufel und Malerpalette von Paul Goyard, figurierter.
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Abb. 5: Paul Goyard, o.T., [1944], Bleistift auf Papier, 14,6 x 13,3 cm.

In zwei etwas größeren Skizzen arbeitete Goyard die Figur ohne die Typografie aus. Der Entwurfscharakter ist in der einen Skizze noch deutlich sichtbar (Abb. 4). Die Linien wurden mehrfach retuschiert. Die Stellung von Schaufel und Füßen scheint den Künstler ebenso beschäftigt zu haben wie die Haltung des gesichtslosen Kopfes. Die Komposition der dritten Skizze ist – wie in Vorbereitung für eine Drucklegung – gespiegelt und grob ausgeschnitten (Abb. 5). Trotz des gesteigerten Formalismus integriert Goyard zwei zentrale Attribute, die die Figur als Häftling kennzeichnen: die lagertypische Frisur (in Buchenwald als „Pisterstreifen“ bekannt) und der Winkel auf der Brust. Letzterer wird erst in der dritten Skizze ergänzt, auf dem anderen Blatt trägt die Figur noch eine hochgeschlossene Jacke mit Stehkragen. Der geometrische Stil der Skizze sowie die gerade und klare Linienführung erinnern an ein Piktogramm. Da Goyard normalerweise in einem ganz anderen Stil zeichnete – ebenfalls mit vereinfachten Formen, aber viel organischer und dynamischer – wählte er diesen Stil offenbar nicht aus Gewohnheit, sondern um eine Botschaft zu vermitteln. Um den künstlerischen Charakter seines Werks und des beworbenen Ereignisses zum Ausdruck zu bringen, wählte er keinen meisterhaften, perfektionierten Stil, um die mimetischen Fähigkeiten von Künstlern zu zeigen, sondern einen, der von den Nazis als „entartet“ gebrandmarkt worden war. Zugleich unterscheidet er sich von dem idealisierenden sozialistischen Realismus, der von Joseph Stalin in der UdSSR proklamiert wurde. Die Verwendung dieses avantgardistischen Stils für die Bewerbung einer Kunstausstellung unterstreicht die formgebende schöpferische Kraft der Künstler in der Häftlingsgesellschaft und bezieht Stellung gegen das Kunstverständnis der Nazis. Sowohl die selbstbewusste Pose der Figur mit dem leicht erhobenen Kopf als auch die Attribute, die sie in der Hand hält – Palette und Schaufel als Symbole für die schöpferischen Fähigkeiten – unterstreichen die stilistische Wahl.

Offensichtlich reichte es Goyard nicht, einen Maler zu zeigen, um die Kunstausstellung im KZ zu bewerben; der Maler sollte auch ein Arbeiter sein. Diese Symbiose von Künstler und Arbeiter ist kein Einzelfall. Am 25. Februar 1945 schrieb der französische Kunsthistoriker und langjährige Leiter der Nationalbibliothek Frankreichs Julien Cain (1887–1974) im KZ Buchenwald eine Kunstkritik über das Werk von Pierre Provost (1895–1986).21 Cain beschreibt die Arbeit des französischen Häftlings, der im Lager unter anderem im Auftrag für das französische Widerstandskomitee Münzen und Medaillen gravierte: „Jeder wirkliche Künstler ist zuerst ein Arbeiter: Hier handelt es sich um einen Arbeiter, der auch Künstler ist.“22 Cain trifft hier nicht nur eine nobilitierende Aussage über die Arbeit Provosts, die ihm den Status eines Künstlers verleiht, sondern auch über das Verhältnis zwischen Kunst und Arbeit im Allgemeinen. Damit greift er eine Debatte der Avantgarden des 20. Jahrhunderts auf und überträgt sie in den Kontext des Konzentrationslagers.

Die Darstellung des Künstlers als Arbeiter gibt auch der Buchenwald-Häftling und Künstler Karol Konieczny (1919–1981) in der Beschreibung seines Arbeitsethos wieder: „Ich möchte betonen, daß ich […] keinerlei Erleichterungen und Privilegien genoß. Ich ging mit den anderen Häftlingen zur Arbeit, und gezeichnet habe ich in der Nacht, wenn die anderen sich ihrer verdienten Erholung erfreuten.”23 Anders als Bruno Apitz, der in vergleichsweise sicheren Kommandos arbeitete, betonte Konieczny beinah stolz, dass er auch weiterhin körperlicher Arbeit nachging.24 Zahlreiche Bilder Koniecznys zeigen starke arbeitende Häftlinge. Damit behauptete er seine eigene Position in der Häftlingshierarchie, vor allem gegenüber der Gruppe der eher privilegierten Häftlinge des ILK – anders als sonst unter Künstlern und Intellektuellen im Lager üblich, denen die Abgrenzung gegenüber sogenannten Muselmännern wichtig war.

Wie Konieczny und Cain zeigte Goyard, dass der Künstler nicht nur kulturell engagiert ist, sondern auch arbeiten kann. Das Piktogramm bekräftigt die Stellung der Künstler in der Hierarchie der Häftlinge als gleichberechtigte Arbeitskräfte und damit implizit als Teil ihrer Gemeinschaft. Die schematische Komposition, die das Gesicht der Figur ausspart, drückt weder Erschöpfung noch Leid aus. Die aufrechte Haltung und der ausgestreckte Arm suggerieren dagegen Stolz und Zuversicht. Als Symbol der Arbeiterbewegung positioniert die Schaufel den Künstler als widerständig und interpretiert die Arbeit selbst als produktiv.

In den Lagern war die Assoziation von Arbeitern mit bewaffneten Soldaten bereits frühzeitig weit verbreitet.25 Ein besonders prominentes Beispiel ist das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“, das 1933 im Emslandlager Esterwegen entstand. Die Melodie, der Text, die Performance während Aufführungen und selbst die frühen Illustrationen wie ein von Hanns Jean Kralik gestaltetes Liedblatt, verknüpften die Zwangsarbeit mit Soldatentum. Das Lied stellte den harten Arbeitsbedingungen das Durchhaltevermögen der Häftlinge und ihre Hoffnung auf Freiheit gegenüber. Das kommt insbesondere zum Ausdruck, wenn der Refrain „Wir sind die Moorsoldaten / und ziehen mit dem Spaten / ins Moor” bei der letzten Wiederholung abgewandelt wird: „Dann ziehn die Moorsoldaten / nicht mehr mit dem Spaten / ins Moor”.26 Auch die Buchenwald-Häftlinge Tymiński und Pribula hielten das Lied auf den ersten Seiten ihrer Alben fest. Aus Buchenwald ist sogar eine Version überliefert, die die Transformation von Arbeitern zu Kämpfern noch expliziter formuliert: „Dann zieh’n die Moorsoldaten / Gewehre statt der Spaten”.27 So kann das Symbol der Schaufel in der Zeichnung von Goyard auch als Ausdruck von Hoffnung auf einen Umbruch gedeutet werden. Die Darstellung des Künstlers als Arbeiter sicherte seine Position in der Häftlingsgesellschaft in politischer Hinsicht und erinnerte daran, dass auch die Künstler am Aufbau der neuen, besseren Gesellschaft beteiligt sein würden.

Ihre Verbindungen zu anderen (privilegierten) Häftlingen ermöglichten es Künstlern im KZ Buchenwald, Kunst zu schaffen, sie zu bewahren und anderen zu präsentieren. Ihre Rolle als Künstler beeinflusste wiederrum ihre Stellung in der Häftlingshierarchie. Obwohl Teile des kommunistischen Widerstands Kunst und Kultur zur Aufmunterung der Häftlinge oder zur Dokumentation der Verbrechen wertschätzten, haderten viele Künstler selbst mit ihrer Rolle. 1944 arbeiteten die meisten von ihnen nicht als Künstler für die SS, sondern mussten u. a. für die deutsche Rüstungsindustrie schuften. Die Häftlinge reflektierten diese Doppelfunktion als Künstler und (Zwangs-)Arbeiter in ihren Werken.

Häftlinge dokumentierten die repressiven Zustände von Zwangsarbeit im KZ mit dem Zeichenstift, um die Taten der Nazis öffentlich anzuklagen. Darüber hinaus eigneten sich jedoch viele kommunistische Buchenwald-Häftlinge Zwangsarbeit als Arbeit an. Künstlerische Artefakte kommentieren die Situation im KZ und die Hierarchien unter den Häftlingen. Plakatentwürfe und die Dokumentationen bestimmter Aufführungen dienten der Kommunikation in einem bestimmten Teil der Häftlingsgesellschaft. Die allgemein bekannte Deutung von Kunst als alleinigem Ausdruck von Selbstbehauptung muss ebenso ausdifferenziert werden, wie das Bild von Zwangsarbeit im KZ. Die skizzierten kurzen Einblicke in Objektgeschichten und -analysen zeigen, dass die präsentierten kleinformatigen, fragilen Zeichnungen mehr sind als Ausdruck geistigen Widerstands oder eine visuelle Quelle, die die historische Realität fotografisch abbildet. Sie geben vielmehr Einblicke in die zeitgenössische Deutung der komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Häftlingen. Sie fordern uns dazu auf, genau hinzusehen. Wie Detlef Hoffmann es einmal formulierte, sollten wir sie nicht als Reliquien verehren, sondern als Relikte ernst nehmen, deren Spuren es zu entziffern gilt.28

Schwarz-Weiß-Fotografie: Tadeusz Brzeski und andere polnische Zangsarbeiter*innen
»Man hat uns - Polen - verboten, sich ohne einen außen auf die Kleidung aufgenähten Buchstaben P vom Wohnort zu entfernen. Wir behalfen uns, indem wir das Leinen mit dem Buchstaben auf ein Stück Blech zogen, an dem eine Nadel angebracht war. Im durch deutsche Polizei kontrollierten Gebiet trugen wir den Blechanstecker mit dem Buchstaben, außerhalb dieses Gebiets entfernten wir das Blech und konnten uns - mit einer großen Dosis Risiko - frei durch Hamburg bewegen.«

Tadeusz Brzeski (Mitte) um 1941, polnischer Zwangsarbeiter in Hamburg

Alle polnischen Zwangsarbeiter:innen mussten im Deutschen Reich den Buchstaben P auf ihrer Kleidung tragen.

Ella Falldorf, M.A., ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekt, welches der Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora durchführt. In ihrer Dissertation untersucht sie bildkünstlerische Artefakte von Häftlingen des KZ Buchenwald als visuelle Deutung der Lagerwirklichkeit.

Fußnoten

Die männliche Form wird im Folgenden nicht als generisches Maskulinum verwendet, sondern bezieht sich auf die ausschließlich männlichen Künstler im Hauptlager des KZ Buchenwald.

Vgl. Sandberg, Herbert (1988): Spiegel eines Lebens. Erinnerungen, Aufsätze, Notizen u. Anekdoten, Berlin, S. 51. In der DDR diente das Kino den ehemaligen deutschen kommunistischen Häftlingen als Beispiel für die erfolgreiche Widerstandstätigkeit, siehe Bartel, Walter u. a. (1960): Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung, Berlin, S. 438, 440–442.

Vgl. Hantke, Susanne (2018): Schreiben und Tilgen. Bruno Apitz und die Entstehung des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“, Göttingen, S. 97–105.

Vgl. Fackler, Guido (2000): „Des Lagers Stimme.“ Musik im KZ; Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936; mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen, S. 410.

Vgl. Neumann-Thein, Philipp (2014): Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos, Göttingen, Kap. 2.

Für einen stark politisierten Bericht dazu vgl.: Apitz, Bruno (2017 [1945]): Kunst im KL Buchenwald, in: Hackett, David A. (Hrsg.): Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, 3. Aufl., München, S. 301–303, hier S. 302.

Von Apitz sind keine weiteren Zeichnungen aus Buchenwald überliefert und in seinem Nachlass (Archiv der Akademie der Künste, Apitz 169) findet sich eine Kopie der Zeichnung aus dem Album von Tymiński. Auf der Rückseite ist vermerkt: „Kopie von Henry Piek [oder Pick] – Bruno Apitz in seiner Kabarettszene ‚Naja‘“. Susanne Hantke bildete diese Reproduktion als „Apitz’ Selbstporträt beim Häftlingsvarieté mit dem Couplet ‚Klagelied eines Häftlings‘, 1944“ ab, vgl. Hantke, Schreiben und Tilgen, S. 101. Kazimierz Tymiński schrieb: „Das ist ein Selbstporträt von Bruno Apitz.“ (Kazimierz Tymiński: Protokoll der Durchsicht des Tagebuchs, 1970, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Dokumentenarchiv, Übersetzung aus dem Polnischen Dieter Rudolf, S. 8 von 16, Handakten-Archiv von Sonja Staar in der Kunstsammlung Buchenwald (BwK), F, Bd. 5).

Langjährige Häftlinge konnten sogenannte Hafterleichterungszertifikate erhalten, die es ihnen erlaubten, ihre Haare wachsen zu lassen, vgl. Gedenkstätte Buchenwald (2011): Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, 8. Aufl., Göttingen, S. 144 f.

Ähnliche Kabarettaufführungen fanden in zahlreichen Lagern und Ghettos statt, oft unter dem Schutz der Lagerelite. Selbst die Art, wie Humor von Apitz eingesetzt wurde, scheint typisch für diese Orte. Vgl. Ostrower, Chaya (2018): Es hielt uns am Leben. Humor im Holocaust, Wiesbaden, S. 176–77.

10 Siehe Bruno Apitz, Interview von Ilse Schulz mit Bruno Apitz, Otto Halle, Herbert Sandberg, Karl Schnog, 1957, Audiodatei und Transkript, BwA 990-4.

11 Vgl. Warmbold, Nicole (2006): Lagersprache. Zur Sprache der Opfer in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald, Bremen, S. 280–85.

12 Herbert Gute, zit.n. Schneider, Wolfgang (1973): Kunst hinter Stacheldraht. Ein Beitrag zur Geschichte des antifaschistischen Widerstandskampfes, Weimar, S. 59. Gute war selbst Künstler und u. a. von 1950–58 Professor für allgemeine Theorie und Kunst an der Humboldt Universität zu Berlin sowie Direktor des dortigen Instituts für Kunsterziehung.

13 Zimmermann, Michael (1993): Erzählte Erinnerung und überlieferte Bilder, in: Hoffmann, Detlef (Hrsg.): Kunst und Holocaust. Bildliche Zeugen vom Ende der westlichen Kultur, Rehburg-Loccum, S. 12–28, hier S. 22.

14 Dieses Unterkapitel erschien in ähnlicher Form in Falldorf, Ella (2021): The Many Faces of the Inmate as a Worker. Artworks of Political Prisoners in the Buchenwald Concentration Camp, in: The Journal of Holocaust Research, 35:4, S. 257–281.

15 Ich danke Sabine Stein, bis 2022 Leiterin des Archivs der Gedenkstätte Buchenwald, für diesen Hinweis.

16 José Fosty, Brief an Sonja Staar, 11. April 2007, BwK, A, Bd. 33; Fosty, José (2002): Paul Goyard oder eine kleine Geschichte von einer großen Freundschaft, in: Knigge, Volkhard (Hrsg.): Paul Goyard. 100 Zeichnungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, Göttingen, S. 37–46, hier S. 40; Reboul, Marie-France (2016): Buchenwald-Dora. L’art clandestin dans les camps nazis, Lille, S. 42.

17 Fosty, Goyard, S. 40.

18 L’Art français, no. 3 (novembre 1942), Bibliothèque nationale de France; Laurence Bertrand Dorléac (2008): Art of the Defeat. France 1940–1944, Los vAngeles, S. 382.

19 Knigge, Volkhard (2002): Brennpunkt der Erinnerung. Paul Goyards Buchenwaldskizzen und das Diorama von Buchenwald, in: ders. (Hrsg.), Paul Goyard, S. 7–16, hier S. 10.

20 Ebd., S. 11.

21 Vgl. Provost, Gisèle/Krivopissko, Guy/Lalieu, Olivier (2016): Mémoire gravée. Pierre Provost: Buchenwald 1944-1945, Carbonne, S. 27, auch S. 50 ff.; S. 59 ff; vgl. Cain, Julien (2009): Préface à l‘édition de 1945, in: Cognet, Christophe/ Taslitzky, Évelyne (Hrsg.): Boris Taslitzky. Dessins faits à Buchenwald, Paris, S. 12–21.

22 „Préface de Julien Cain“, Nachlass Pierre Provost (Privatbesitz), Kopie in BwK, A, Bd. 72.

23 Konieczny, zit.n. Jaworska, Janina (1975): Nie wszystek umrę: Twórczość plastyczna Polaków w hitlerowskich więzieniach i obozach koncentracyjnych, Warszawa, S. 80, Übersetzung aus dem Polnischen von Krystyna Rudolf, BwK, A, Bd. 52, S. 4 von 12.

24 Nach der Quarantäne im Kleinen Lager musste Konieczny im Steinbruch und später im „Scheißeträgerkommando“ arbeiten, vgl. Konieczny, zit.n. Jaworska, Nie wszystek, S. 78.

25 Vgl. Falldorf, Ella/Kabalek, Kobi (2023): Meaningful Work. Cultural Frameworks of Forced Labour in Accounts of Nazi Concentration Camp Inmates, in: German History, 41:1, S. 41–66, hier S. 45–49.

26 Zit.n. Fackler, Guido (2002): Kulturelle Selbstbehauptung im KZ Börgermoor, in: DIZ Emslandlager (Hrsg.): Das Lied der Moorsoldaten: „1933 bis 2000“ Bearbeitungen, Nutzungen, Nachwirkungen, Papenburg, S. 10–26, hier 23, auch S. 21 ff. Vgl. Probst-Effah, Gisela (1995): Das Moorsoldatenlied, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 40, S. 75–83, hier S. 76 f.

27 Fackler, Kulturelle Selbstbehauptung, S. 26.

28 Hoffmann, Detlef (2015): Bild oder Reliquie. Bildnerische Zeugnisse aus den Lagern, in: Knellessen, Dagi/Possekel, Ralf (Hrsg.): Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten, Berlin, S. 175–192.


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