Geschichtskultur

„Letzte Adresse“

Tafeln für verstorbene Insassen des sowjetischen Speziallagers Nr. 2: Arthur Jubelt und Edmund Hunger

Im Mai 2023 erreichte die Gedenkstätte Buchenwald eine Einladung zur feierlichen Anbringung einer Erinnerungstafel im Rahmen des Projektes Letzte Adresse für Arthur Jubelt in der Stadt Zeitz in Sachsen-Anhalt. Die Veranstaltung fand am Sonntag, dem 26. Mai in Zeitz statt. Eine Tafel des Projektes „Letzte Adresse“ sollte neben einer weiteren Erinnerungstafel am ehemaligen Wohn- und Verlagshaus von Arthur Jubelt in Zeitz angebracht werden. Die im Jahr 2000 angebrachte größere Gedenkplatte trägt die Inschrift „Hier lebte und wirkte Arthur Jubelt, geboren am 30. Januar 1894 in Zeitz, gestorben 6. Dezember 1947 in Buchenwald. Kunsthistoriker und Verleger. Erster kommissarischer Oberbürgermeister der Stadt Zeitz nach 1945, Stadt Zeitz.“

Tafel für Arthur Jubelt am ehemaligen Wohnhaus in Zeitz, davor Kränze und Besucher*innen
Setzung einer Tafel „Letzte Adresse“ für Arthur Jubelt, Zeitz, 26. Mai 2023.
©Natalia Baryshnikova

Die Gedenkstätte Buchenwald meldete im Vorfeld an diesem Vorhaben Bedenken an und begründete diese mit der Biografie Arthur Jubelts: Der 1894 in Zeitz geborene Jubelt hatte 1934 den Verlag seines Vaters Reinhold Jubelt übernommen. Der Verlag gab heimatkundliche, völkische und antisemitische Literatur heraus, darunter 1918–1919 die deutschnationalen, rassistischen Schriften von Adolf Bartels, einem ideologischen Vordenker Hitlers in Weimar. Ab 1900 publizierte der Verlag die „Zeitzer Neuesten Nachrichten“. Arthur Jubelt nahm 1914 bis 1916 am Ersten Weltkrieg teil und wurde schwer verwundet. 1920 trat er aus der Wehrmacht aus, da er keinen Eid auf die Weimarer Verfassung leisten wollte. Während seines Studiums in München nahm er am 9. November 1923 an Hitlers gescheitertem Staatsputsch, dem „Marsch auf die Feldherrnhalle“, teil und berichtete darüber in den Zeitzer Neuesten Nachrichten. Er gab dabei seinem Bedauern über dessen Scheitern Ausdruck. Soweit bekannt, war er kein NSDAP-Mitglied, setzte sich jedoch für größere Parteiveranstaltungen in Zeitz ein, wie den „Marinegautag“ 1938, der unter großer Beteiligung der lokalen Bevölkerung durchgeführt wurde.

Nach seiner Teilnahme am Volkssturm 1945 wurde Arthur Jubelt durch die amerikanische Besatzungsmacht als Bürgermeister eingesetzt. Nach der Übergabe der Stadt an die sowjetische Besatzungsmacht verhafteten ihn Vertreter des sowjetischen Geheimdienstes am 6. September 1945. Als Vorwurf und Grund für die Verhaftung ist in den Akten „Zeitungsredakteur“ angegeben. Er wurde zunächst im Speziallager Nr. 6, Torgau, festgehalten und am 22. Dezember 1946 von Torgau nach Buchenwald gebracht. Dort starb er am 6. Dezember 1947 an den Folgen von Unterernährung, Isolation und mangelnder medizinischer Versorgung. Er ist damit zweifellos Opfer der Internierungspolitik der sowjetischen Besatzungsmacht geworden. Dennoch ist seine Beteiligung und auch die seines Verlages an der ideologisch-kulturellen Vorbereitung des Nationalsozialismus nicht wegzudiskutieren. Inwieweit können Form und Inhalt der Gedenkplatte „Letzte Adresse“ zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Biographie Arthur Jubelts beitragen?

Derartige Auseinandersetzungen über die Frage, wie ein geschichtsbewusstes Gedenken aussehen kann, haben auch in Buchenwald eine Geschichte. Nachdem nach dem Ende der DDR die Gräber der Toten des sowjetischen Speziallagers aufgefunden worden waren, markierte die Gedenkstätte im Februar 1990 den Ort mit einem Holzkreuz. Schon bald wurden an das Holzkreuz Suchanzeigen von Angehörigen angeheftet, die über Jahrzehnte nichts über den Verbleib der Gesuchten erfahren hatten. Der Weg zu den anonymen Sammelgräbern im Wald wurde 1990 auf Initiative der ebenfalls 1990 gegründeten Initiativgruppe Buchenwald 1945–50 e. V. befestigt. Die Gedenkstätte ließ 1996 die provisorischen Holzpfähle im Wald, die im Rahmen archäologischer Untersuchungen die Senken der Grablagen markierten, durch Stahlstelen austauschen, die mit der Inschrift „Unbekannt“ und einer Nummerierung auf die anonymen Grablagen verweisen. Immer wieder setzten Angehörige individuelle Erinnerungszeichen. Eine Schleife, die Astrid Rühle von Lilienstern, die Enkelin eines im Speziallager verstorbenen Internierten an einem Baum befestigte, wurde häufig zitiert. Der Text lautete: „Er war Generalmajor und Opfer seiner Obrigkeitstreue, die auch vor Hitler nicht Halt machte. Ich wünsche, er hätte sich verweigert. Er möge in Frieden ruhen.“ Der Text gibt in besonderer Weise einen „doppelten Schmerz“ (Volkhard Knigge) wider: den Schmerz über den individuellen Verlust, wie auch den Schmerz darüber, dass sich der Großvater in der NS-Diktatur nicht verweigert hatte.

Waldfriedhof mit grafisch eingefügten Stahlstelen
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1996 gestalteter Waldfriedhof. Die provisorischen Holzpfähle zur Kennzeichnung der Gräber wurden durch Stahlstelen ausgetauscht.
Stahlstele
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Gedenkschleife für Curt Rühle von Lilienstern im Grabfeld nordöstlich des Lagergeländes
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Gedenkschleife für Curt Rühle von Lilienstern im Grabfeld nordöstlich des Lagergeländes, 1996.
Gedenkkreuz im Gräberfeld I
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Errichtung eines Gedenkkreuzes an der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald am Ort von Knochenfunden im Gräberfeld I durch die Gedenkstätte am 4. Februar 1990.

Dem Bedürfnis der Angehörigen, stellvertretend für den anonym gebliebenen Verlust Erinnerungszeichen oder Kreuze zu setzen, kommt in Buchenwald ein individueller Trauerplatz nach, der sich vor allem in den 1990er-Jahren rasch erweiterte. Zunächst wurden vor allem Kreuze aus Holz gesetzt. Einige Angehörige haben in den letzten Jahren die verfallenen Holzkreuze durch Gedenksteine ersetzt, so auch die Angehörigen von Edmund Hunger aus Mulda. Sie setzten sich darüber hinaus für die Anbringung einer Erinnerungstafel im Rahmen des Projektes „Letzte Adresse“ ein. Die Tafel wurde im September 2023 in Mulda angebracht.

Edmund Hunger war kurze Zeit später als Arthur Jubelt, am 7. Februar 1948, im Speziallager Nummer 2 verstorben. Vor seiner Inhaftierung führte der 1904 geborene Hunger ein Sägewerk. Er war bereits 1930 in die NSDAP eingetreten und zunächst wegen eines Konfliktes mit dem Ortsgruppenleiter 1934 ausgetreten. 1939 bemühte er sich erfolgreich um eine Wiederaufnahme. Sein Betrieb wurde mit dem „Gau-Diplom der NSDAP“ als Vorzeigebetrieb ausgezeichnet. Während des Zweiten Weltkrieges beschäftigte er dort 100 sowjetische Kriegsgefangene. Sowjetische Kriegsgefangene galten in der rassistischen und antisemitischen NS-Diktatur als Träger des „jüdischen Bolschewismus“. Sie wurden besonders schlecht behandelt, nur in geschlossenen Kolonnen beschäftigt und weit schlechter als andere Zwangsarbeiter verpflegt.

Bei der Setzung der Erinnerungstafel „Letzte Adresse“ am letzten Wohnort Hungers beriefen sich die Angehörigen auf dessen Rehabilitierung durch die russische Militärstaatsanwaltschaft 1991. Ausschlaggebend für die Rehabilitierung war die Tatsache, dass Hunger der Freiheit beraubt wurde, ohne dass eine Anklage vorgelegen hatte; der der Inhaftierung zu Grunde liegende Sachverhalt wurde nicht beurteilt. Aus formalen Gründen wurden Rehabilitierungen von Insassen des sowjetischen Speziallagers Nummer 2 in der Russischen Föderation bald darauf eingestellt. Dies wurde damit begründet, dass die Internierung im Speziallager Nr. 2 auf kein Gerichtsverfahren zurückzuführen war und somit auch kein Gerichtsurteil aufzuheben war. In beiden Fällen erscheint die Setzung einer Erinnerungstafel, die ohne Kontextualisierung zwangsläufig als Gedenktafel wahrgenommen wird, problematisch. Es besteht die Gefahr, dass durch die Verlagerung der Trauer der Angehörigen in den öffentlichen Raum ein ahistorisches, relativierendes Geschichtsbild befördert wird, das einer Verharmlosung von NS-Verbrechen, wie etwa die Beschäftigung von Zwangsarbeitern, Vorschub leistet.

Das Projekt „Letzte Adresse“

 

Die Tafeln „Letzte Adresse“ erinnern an Menschen, die Opfer sowjetischer staatlicher Repressionen wurden. Die Idee des Projektes geht auf den Moskauer Journalisten Sergej Parchomenko zurück, der sich in Deutschland von dem Projekt der „Stolpersteine“ inspirieren ließ. Die erste Tafel wurde 2014 in Moskau eingeweiht, bis 2020 wurden schon über 1.000 Tafeln in 52 Städten Russlands angebracht. Weitere Tafeln wurden in Tschechien, Moldau, Georgien, Polen, Frankreich und Deutschland eingeweiht.

 

Grundlage für die Setzung einer Erinnerungstafel in der Russischen Föderation ist der Begriff der politischen Repression entsprechend dem Gesetz Nr. 1761-1 zur „Rehabilitierung von Opfern der politischen Repressionen“ vom 8. November 1991, in dem staatliche Zwangsmaßnahmen gegen sowjetische Bürger:innen genannt werden, wie u. a. Lebens- oder Freiheitsentzug, Zwangsbehandlung in psychiatrischen Einrichtungen, Zwangsarbeit sowie die Einschränkung der Rechte und Freiheiten von Personen, die als sozial gefährlich für den Staat oder eine politische Gruppierung gelten.

 

Zudem müsse, so die Initiatoren des Gedenkprojektes, eine Rehabilitierung vorliegen und die Verfolgten dürften keine Mitglieder einer in die staatlichen Repressionen eingebundenen Behörde gewesen sein.

 

In Russland werden die Tafeln heute vermehrt abgenommen, allerdings bringen russische Bürger:innen selbstgestaltete Ersatztafeln an.

Die Historikerin Dr. Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.


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