KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Polizeiliche Routine in einem verbrecherischen System

Polizeigruppen diskutieren kontrovers am Beispiel von zwei französischen Zwangsarbeitern auf ihrem Weg durch die Repressionsinstanzen der NS-Polizei

„Das kennen wir doch auch aus unserem Dienstalltag. Wir machen unseren Teil und geben es dann an die nächste Stelle weiter.“ Diese Worte waren die Reaktion eines Polizisten auf die Konfrontation mit einer Polizeiakte aus der NS-Zeit, welche während einer mehrtägigen Bildungsveranstaltung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora untersucht wurde. Sie stehen sinnbildlich für das Potenzial zur kritischen Reflexion der heutigen beruflichen Praxis von Polizist:innen auf Grundlage der Auseinandersetzung mit der eigenen Organisationsgeschichte.

Polizeigruppe in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
Polizeigruppe aus Sachsen während einer Bildungsveranstaltung 2022 in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Seit 2018 bietet die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora berufsgruppenspezifische Bildungsangebote für Polizist:innen an. Im Rahmen von mehrtägigen Seminaren, in deren Zentrum die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Polizei zwischen 1933 und 1945 steht, analysieren die Teilnehmenden unter anderem den Verhaftungsweg von zwei französischen Zwangsarbeitern – René Camille d´Halluin und Roger Fagot. Anhand von mehreren historischen Dokumenten der Polizei und der SS-Administration des KZ Mittelbau-Dora aus dem Jahr 1944 begeben sich die Polizist:innen auf historische Spurensuche. Sie rekonstruieren die Verfolgungsgeschichte der beiden Männer und diskutieren im Anschluss die Rolle der Polizei hierbei.

Die Polizist:innen beschäftigen sich zunächst selbständig mit dem Quellenkonvolut, um den Verhaftungsweg der beiden französischen Zwangsarbeiter nachvollziehen zu können. Die ersten Dokumente, zwei Vernehmungsprotokolle, stammen aus der Feder eines Gendarmerie-Offiziers aus Mühlhausen. René Camille d´Halluin (geb. 18. April 1926) und Roger Fagot (geb. 19. August 1909) wurden nur kurze Zeit zuvor durch einen Kollegen des Gendarmen – den Gendarmerie-Einzelposten der Reserve Victor – am 17. Juli 1944 auf einer Landstraße unweit der Stadt festgenommen.

Beide stammten aus Nordfrankreich und waren drei Wochen zuvor durch die deutschen Besatzungsbehörden nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Sie sollten in Nordhausen am Südharz für die Junkers AG Flugzeugteile fertigen. Hier mussten sie im sogenannten Nordwerk Zwangsarbeit verrichten und befanden sich damit in unmittelbarer Nähe ihres späteren Leidensortes – dem KZ Dora.

Nordwerk

 

Unterirdische Fabrik der Junkers-Werke in einer großen Stollenanlage im Südharz. Junkers ließ hier durch zivile Zwangsarbeiter:innen Flugzeugmotoren produzieren. Im südlichen und mittleren Abschnitt der Anlage mussten Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora Zwangsarbeit in der Serienfertigung der sog. Vergeltungswaffen 1 und 2 leisten.

Aufgrund der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen und des Umstands, dass René d´Halluin in der Heimat seine schwangere Frau zurücklassen musste, beschlossen die beiden Männer, die Flucht nach Frankreich zu wagen. Mit diesem Vorhaben waren sie nicht allein, denn insbesondere in der Kriegsendphase versuchten wöchentlich tausende Zwangsarbeiter:innen der strapaziösen Arbeit zu entkommen. Zur Flucht nutzten die zwei Franzosen einen arbeitsfreien Tag, sodass ihr Fehlen zunächst nicht auffiel. Dies war möglich, da westeuropäische Zwangsarbeiter:innen im Vergleich zu Sowjetbürger:innen oder Pol:innen ein gewisses Maß an Freizügigkeit besaßen. Zudem bestand für Westeuropäer:innen, anders als für Menschen aus den letztgenannten Ländern, keine äußere Kennzeichnungspflicht.

Um ihre Chancen auf eine erfolgreiche Flucht zu erhöhen, hatten die zwei Männer im Vorfeld Brot und Lebensmittel gespart sowie eine Landkarte organisiert. Von der deutschen Zivilbevölkerung konnten sie kaum auf Unterstützung hoffen. Sie galt der Polizei vielmehr als wichtige Hilfe bei der Jagd nach flüchtigen Zwangsarbeiter:innen. Da es ihnen während ihrer Flucht mehrfach nicht gelang, Fahrkarten für die Bahn zu bekommen, liefen die beiden Flüchtigen letztlich zu Fuß in Richtung Westen. Etwa einen Tag später gerieten sie bei Mühlhausen vermutlich in eine Routine-Polizeikontrolle des Gendarmerie-Einzelpostens der Reserve Victor. Dieser setzte sie unmittelbar fest und führte sie der Vernehmung durch seinen Vorgesetzten zu.

Im Anschluss durchliefen René Camille d´Halluin und Roger Fagot diverse Dienststellen und Polizeiinstanzen – vom Polizeigefängnis in Mühlhausen überstellte die Kriminalpolizei sie etwa einen Monat nach der Verhaftung ihren Kollegen nach Nordhausen. Hier verliert sich vorübergehend ihre Spur. Sehr wahrscheinlich erfolgte in Nordhausen die Übergabe an die Geheime Staatspolizei. Diese war die zuständige Polizeiinstanz für Zwangsarbeiter:innen, da sie generell als potenzielle Staatsfeinde betrachtet wurden. Bis Anfang November 1944 befanden sich beide Franzosen dann mutmaßlich in einem Gestapo-Gefängnis in Nordhausen.

Vernehmungsprotokoll von René d`Halluin
Vernehmungsprotokoll von René d`Halluin durch die Gendarmerie in Oberdorla (bei Mühlhausen), 17. Juli 1944.
©Thür. Staatsarchiv Gotha

Am 28. November 1944 tauchten René d´Halluin und Roger Fagot in einem Aufnahmeschein der Politischen Abteilung als Neuzugänge des KZ Mittelbau wieder auf. Sie wurden in sogenannte Schutzhaft genommen – eine häufige Konsequenz nach Fluchtversuchen von Zwangsarbeiter:innen. In einem Außenlager des KZ Mittelbau mussten beide anschließend auf Baustellen arbeiten. Der Terror durch die Bewacher, die Schwerstarbeit und die schlechten Lebensbedingungen hinterließen schon nach wenigen Wochen ihre Spuren.

René d´Halluin wurde kurz vor Weihnachten 1944 im Krankenbau des KZ Mittelbau aufgenommen, ihm war bei Bauarbeiten ein schwerer Zementblock auf den linken Arm gefallen. Der behandelnde Häftlingsarzt bescheinigte ihm zu diesem Zeitpunkt, neben der aus dem Unfall resultierenden Handverletzung, bereits einen mäßigen Ernährungszustand und allgemeine Schwäche. Aus einer sogenannten Abgangsliste der SS geht schließlich hervor, dass sich sein Zustand weiter verschlechterte und er am 3. Januar 1945 an einer Blutvergiftung verstarb.

Auch der Gesundheitszustand von Roger Fagot verschlechterte sich rapide, sodass er Anfang März 1945 mit hunderten weiteren Häftlingen auf einem Transport in das kurz zuvor gegründete KZ-Außenlager Boelcke-Kaserne abgeschoben wurde. Im benachbarten Zwangsarbeitslager von Junkers hatte Fagot bereits im Sommer 1944 einige Tage verbringen müssen. In das KZ-Außenlager Boelcke-Kaserne verschleppte die SS die nicht mehr arbeitsfähigen Häftlinge des KZ Mittelbau und überließ sie, weitestgehend auf sich allein gestellt, ihrem Schicksal. Ab diesem Zeitpunkt verliert sich die Spur von Roger Fagot. Höchstwahrscheinlich starb er wie tausende andere Häftlinge in diesem Außenlager oder auf einem späteren Räumungstransport.

Schwarz-Weiß-Porträt von Roger Fagot vor seiner Verhaftung 1944
Roger Fagot vor seiner Verhaftung 1944.
Foto: Centre d’Histoire de La Coupole

Die schrittweise Rekonstruktion dieses Fallbeispiels ermöglicht den Teilnehmenden, die zentrale Rolle der Polizei vor- und während einer KZ-Inhaftierung zu rekonstruieren. Dies trifft nicht nur auf damalige zivile Zwangsarbeiter:innen wie René d´Halluin und Roger Fagot, sondern nahezu auf alle Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora zu. Ob Festnahme, Vernehmung, Deportation oder KZ-Einweisung – an fast jeder Station auf dem Weg ins Konzentrationslager waren Polizeibeamte beteiligt. Dabei ging ein Mensch durch viele Hände und Instanzen innerhalb des Polizeiapparats. Diese Form der Arbeitsteilung, auf die auch der Polizist aus dem Eingangszitat rekurriert, war nebenbei ein effektives Mittel, die Verantwortung des einzelnen Beamten zu verwässern – da man ja „nur“ seinen Teil des Vorgangs bearbeitet hatte. „Ich muss sagen, es ist […] erstaunlich, wie ähnlich sich das noch liest.“ Diese Aussage eines anderen Seminarteilnehmers unterstreicht, dass die Verwaltungsabläufe im Vergleich zur Weimarer Republik und auch zur heutigen Zeit teils unverändert blieben und somit zusätzlich den Eindruck von Normalität und Rechtmäßigkeit suggerierten.

Dennoch waren Polizist:innen keine Opfer des Systems. Die Frage der individuellen Verantwortung als Akteur des NS-Repressionsapparates wird nachfolgend zum Gegenstand einer Diskussion gemacht. Beispielhaft analysieren und bewerten die Teilnehmenden das Handeln des Gendarmerie-Einzelposten Victor, der die beiden Franzosen auf offener Straße einer Kontrolle unterzog. Zwar liegen uns zu ihm nur wenige biografische Angaben vor, aber dennoch steht die von ihm durchgeführte Personenkontrolle – letztlich eine polizeiliche Regeltätigkeit – in einem Kausalzusammenhang zum Tod der beiden Franzosen im KZ Mittelbau-Dora. Dieses Spannungsfeld bildet die Grundlage für eine nachfolgende Diskussion.

Dokumentenmappe von René d´Halluin und Roger Fagot
Dokumentenmappe zum Verhaftungsweg von René d´Halluin und Roger Fagot

Die Bewertung der Frage nach der moralischen Verantwortung des Gendarmen „Victor“ am Tod der beiden Zwangsarbeiter bringen die Polizist:innen im ersten Schritt nonverbal durch die entsprechende Positionierung auf einer Skala im Raum („Streitlinie“) zum Ausdruck. Diese dient nachfolgend als Ausgangspunkt für die Diskussion im Plenum.

Die Erfahrungen aus den bisherigen Veranstaltungen zeigen, dass sich die Polizist:innen zu dieser Frage sehr kontrovers positionieren. Zwar sprechen fast alle Seminarteilnehmer:innen dem Gendarmen eine moralische (Teil-)Schuld zu, jedoch führen viele eine Reihe von vermeintlich entlastenden Argumenten an, durch die „Victor“ letztlich eher als Opfer denn als Täter erscheint. Insbesondere die gesellschaftliche Situation im Nationalsozialismus, ein möglicher Mangel an Wissen über die Konsequenzen seiner Handlung, ein unterstellter Befehlsnotstand sowie das Fehlen beruflicher Alternativen zur Versorgung seiner Familie wären hier als Entlastungsnarrative zu nennen.

Diese Erklärungsansätze lassen sich jedoch mit dem aktuellen Forschungsstand zur Täterforschung weitestgehend widerlegen, was z. T. durch die Teilnehmenden der Gegenposition oder die Bildungsreferent:innen mittels weiterer Kontextinformationen geleistet wird. Beispielsweise lässt sich weder ein Befehlsnotstand für Polizist:innen nachweisen, noch war der Dienst als Polizist alternativlos.

Dem Hauptentlastungsargument, Victor habe lediglich eine polizeiliche Regeltätigkeit ausgeführt – „nur seine Arbeit gemacht“ – kann zwar zunächst zugestimmt werden. Es macht jedoch an dieser Stelle einen gravierenden Unterschied, dass diese durchschnittliche Tätigkeit nicht in einem demokratischen Rechtsstaat, sondern in einem verbrecherischen System ausgeübt wurde. Denn als Staatsdiener in diesem System wurde jeder Polizist früher oder später Bestandteil von Verbrechen gegen die als Feinde definierten Menschengruppen, egal welche innere Haltung er dazu einnahm. Ohne abertausende Menschen wie Victor, die aus ihrer Sicht nur Dienst nach Vorschrift taten, aber das System damit aktiv unterstützten, wären die NS-Verbrechen in Summe nicht denkbar und durchführbar gewesen. Dies zu erkennen, ist ein zentrales Lernziel der Diskussion, an deren Ende kein prozentual definierter Grat an moralischer Verantwortung oder eine konforme Haltung zu diesem Fall stehen kann bzw. soll.

Im Sommer 1944 hatten sich die Handlungsspielräume für einen deutschen Polizisten bereits stark verengt. Nur wenige Menschen besaßen in dieser Situation noch den Mut und die Zivilcourage zu nonkonformem Verhalten. Das Ziel in Seminaren mit heutigen Polizist:innen kann folglich nicht sein, nach Handlungsalternativen im Angesicht von Verbrechen zu suchen. Es gilt vielmehr, Ansätze zu identifizieren, wie man erst gar nicht in eine solche Lage gerät. Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden deshalb, welche Handlungsalternativen Victor weit vor seiner Personenkontrolle im Sommer 1944 besessen hätte.

Dabei können die Polizist:innen erkennen, dass hier das Thema innere Haltung eine wichtige Rolle spielt. Der rechtzeitige Austritt aus dem Polizeidienst Anfangdes Jahres 1933, wo die demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien des Staates rasant ausgehöhlt und abgeschafft wurden, wäre für Victor die entscheidende Möglichkeit gewesen, um später nicht zum Mordgehilfen zu werden. Doch um den rechten Zeitpunkt zu erkennen, ab dem durchschnittliches, polizeiliches Handeln mit Verbrechen an der Menschlichkeit verbunden ist, braucht es eine starke Haltung – persönliche rote Linien. Nur derjenige, der für sich klar definiert, welche ethischen, moralischen und normativen Grenzen für seine Tätigkeit in der Polizei existieren, besitzt die Möglichkeit, das Abgleiten in eine Diktatur rechtzeitig zu erkennen und die entsprechenden persönlichen Konsequenzen zu ziehen. Auch wird von vielen die demokratische Teilhabe als ein wichtiges Instrument für jede:r Bürger:in beschrieben, um eine Gesellschaft frühzeitig vor dem Abrutschen in eine Diktatur zu bewahren. Beide Ansätze können auch für die Gegenwart als ein wichtiges Rüstzeug beschrieben werden, um problematischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen frühzeitig entgegenwirken zu können – als Polizist:in und Privatperson.

Während dieser Diskussion bringen die Polizist:innen häufig Gegenwartsbezüge aus ihrer eigenen beruflichen Praxis ein. Dort zeigen sie auf, dass auch der heutige Polizeidienst moralisch-ethische Grenzfälle in sich birgt oder auch strukturell beinhaltet. So werden beispielsweise problematische Erfahrungen von Frontexeinsätzen, die Abschiebung von Menschen in Krisengebiete oder auch rassistische Äußerungen bzw. Verhaltensweisen von Kolleg:innen thematisiert. Um falsche Analogieschlüsse zu vermeiden, werden diese Phänomene zusammen mit den Teilnehmenden besprochen und kritisch eingeordnet.

Insgesamt entspricht die Verknüpfung der historischen Ebene mit der aktuellen Polizeipraxis einem enorm wichtigen Reflexionsschritt. Durch den hier entstandenen Gegenwartsbezug bildet sich die Möglichkeit heraus, das eigene Handeln sowie die Institution Polizei kritisch zu hinterfragen. Im Sinne eines kritischen Geschichtsbewusstseins kann dies dabei helfen, aktuelle gesellschaftliche und polizeiliche Diskurse besser zu verstehen, zu ergründen und im besten Fall in ethisch-moralischen Grenzfällen zusätzliche Handlungssicherheit zu erlangen.

Felix Roth ist Mitarbeiter in der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.


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