Buchenwald

Biografische Daten zu Täter:innen im System der Konzentrationslager:

Digitale Zugänge für Forschung und Dokumentation in Gedenkstätten und darüber hinaus

Am 1. und 2. August 2024 fand im Tagungshaus der Gedenkstätte Buchenwald ein bemerkenswerter internationaler Workshop statt. Über dreißig Expert:innen aus Gedenkstätten, Archiven und wissenschaftlichen Instituten kamen zusammen, um sich über Quellen, Methoden und Erkenntnisse in der Forschung zu NS-Täter:innen auszutauschen und neue Perspektiven für die Biografieforschung zu diskutieren.

Der Workshop bildete zugleich einen Abschluss des seit 2021 von den Gedenkstättenstiftungen in Brandenburg und Thüringen gemeinsam realisierten Digitalisierungsprojektes.

In der jahrzehntelangen Erforschung der Geschichte des nationalsozialistischen Lagersystems und einzelner Konzentrationslager bildete verständlicherweise lange Zeit die Rekonstruktion von Haftwegen und Biografien der Opfer den zentralen Schwerpunkt. Allein schon angesichts der hohen Häftlingszahlen und der Heterogenität der Verfolgungskontexte war die Aufgabe gigantisch. Die eingeschränkte Zugänglichkeit vieler Materialien in Archiven, verschiedene Aspekte des Datenschutzes, unterschiedliche Schreibweisen von Namen, die schlechte Qualität der überlieferten Quellen usw. machten diese Arbeit umso komplexer.

Die Seite der Täter:innen stand lange Zeit deutlich weniger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – gerade wegen des mangelnden Interesses in allen Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches, die Beteiligten an den NS-Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Ausnahme bildete die Forschung zu Hauptverantwortlichen, darunter Lagerkommandanten und ihre Stellvertreter. Dadurch blieben die Biografien „einfacher“ Menschen in SS-Uniform und gar von Zivilangestellten im Dunkeln. Erst in den 1990er-Jahren und oft unabhängig voneinander begannen die Mitarbeiter:innen von Gedenkstätten, die vorhandenen Informationen über das Lagerpersonal gezielt zu systematisieren.

Der diagnostizierte Nachholbedarf in Bezug auf die Erforschung von Täter:innen, insbesondere den Angehörigen des Wachpersonals, bildete den Anlass des Workshops.

Wo findet man valide Daten, wie können diese aufbereitet, genutzt und möglichst vernetzt werden?

Im ersten Panel des Workshops berichteten Referent:innen aus vier Gedenkstätten, darunter der Leiter der museologischen Sammlung der Gedenkstätte Buchenwald Holm Kirsten, über den Aufbau von Täter:innendatenbanken einzelner Konzentrationslager wie Buchenwald oder Sachsenhausen. Deren Geschichte ähnelt sich. Seit der Zeit um die Jahrtausendwende arbeiteten Mitarbeiter:innen an der Erstellung von Listen, um schneller auf Archivanfragen reagieren zu können. Nach einer ersten Erfassung in Excel-Tabellen entstanden später komplexere Datenbanken im eigentlichen Sinne, die Namen, Adressen, Dienstgrade, Fotos, Zitate aus den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge usw. verzeichnen. Heute enthalten derartige Datenbaken teils Einträge zu Tausenden Personen und damit rein summarisch zu einem Gutteil der Täter:innen im System des jeweiligen KZ.

Thema des zweiten Panels waren Hindernisse in der Täter:innenforschung wie die Dezentralität und Zugangsbeschränkungen für biografische Daten – sowie Möglichkeiten und Werkzeuge, diese zu überwinden, gerade auch durch Kooperationen zwischen verschiedenen Institutionen.

Maria Dermentzi (Department of Digital Humanities, King‘s College London) stellte beispielsweise mehrere Werkzeuge vor, die in der täglichen Arbeit der European Holocaust Research Infrastructure (EHRI), einem gemeinsamen digitalen Projekt von Holocaust-Historiker:innen, Archivar:innen und Spezialist:innen aus mehreren europäischen Ländern, eingesetzt werden. Dazu gehören Tools wie der EHRI Knowledge Graph und der EHRI SPARQL Endpoint. Sie ermöglichen die Verknüpfung von Daten aus verschiedenen Informationsressourcen in unterschiedlichen Sprachen. Anwendungen wie Named Entity Recognition (NER) suchen nach mehreren, sehr unterschiedlichen Referenzen, die mit den Taten in Verbindung stehen, seien es Ortsnamen, Daten, Dienstgrade, Organisationsnamen usw. Diese können dann mit Hilfe von Tools wie Named Entity Linking (NEL) mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad mit einer gesuchten Person verbunden werden, um deren Aktivitäten zu identifizieren.

René Bienert (KZ-Gedenkstätte Mauthausen) und Maximilian Kalus (Memorial Archives International) griffen in ihrem Vortrag das Thema der Erstellung einer gemeinsamen Datenbank zu Täter:innen im System der Konzentrationslager auf. Da das Wachpersonal häufig in verschiedenen Konzentrationslagern tätig war und Mitarbeiter:innen von Gedenkstätten und Archiven bei Recherchen auf Grundlage der „eigenen“ Datenbanken nicht immer erschöpfende Aussagen über Biografien machen können, wird eine mehrschrittige Verknüpfung der Datenbestände angestrebt. Das Pilotprojekt einer solchen Datenbank wird bereits von einigen Gedenkstätten vorbereitet. Nach wie vor bestehen dabei einige Herausforderungen: Es gelten datenschutzrechtliche Restriktionen, Aussagen über den Grad der Tatbeteiligung einzelner Personen sind nicht unumstritten und die Arbeit ist zeit- und ressourcenintensiv. Daher wurde für eine sogenannte Minimallösung in einer zunächst nicht allgemein zugänglichen Datenbank plädiert. In diesem Fall sollen die Daten mit einer klar begrenzten Anzahl von Deskriptoren über die SS-Angehörigen gesammelt werden.

Im dritten Teil des Workshops ging es um biografische Daten, die aus den Versuchen der Ahndung und Rekonstruktion der NS-Verbrechen in verschiedenen Ländern nach der Befreiung hervorgegangen sind.

In der Nachkriegszeit gab es in beiden deutschen Staaten und mehreren weiteren Ländern Untersuchungen und Prozesse gegen NS-Verbrecher:innen. Die in diesem Kontext entstandenen Quellen bilden eine sehr wichtige Grundlage für Forschungen zu Täter:innen im Kontext des KZ-Systems. Sie stehen den Historiker:innen jedoch leider nur in unzureichendem Maße zur Verfügung, zudem gab es sehr große Unte rschiede in der Klassifizierung der Verbrecher:innen in den verschiedenen Gerichtssystemen der einzelnen Staaten.

Julia Landau, Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Gedenkstätte Buchenwald, referierte über biografische Daten von Täter:innen im System der Konzentrationslager am Beispiel des Speziallagers in Buchenwald. Sie berichtete, dass in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) der Schwerpunkt der Ermittlungen eher auf den Verbrechen lag, die in den besetzten Teilen der Sowjetunion und an sowjetischen Bürger:innen begangen wurden. Ermittlungen gegen potenziell gefährliche Personen während der Internierung gingen aufgrund von Personalmangel nur schleppend voran. Spitzelberichte über Gespräche der Lagerinsass:innen und Verhöre in der Operativen Abteilung der Lagerleitung konnten nur wenig Beweismaterial liefern. Dennoch wurden etwa 700 Häftlinge des Speziallagers an die sowjetischen Ermittlungsbehörden ausgeliefert. Für Hunderte Beschuldigte, z. B. Aufseherinnen in deutschen Lagern und Gefängnissen, endeten die Ermittlungen mit Urteilen der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Leider bleibt die Quellenlage für Historiker:innen suboptimal. Dokumente in russischen Archiven sind nach wie vor nur eingeschränkt zugänglich. Im Gegensatz dazu sind die Bestände der Archive in den ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken für Wissenschaftler: innen offen. Sie enthalten jedoch nur einen kleinen Teil der Akten. Andere Schwierigkeiten in der Arbeit mit den Fällen der verurteilten deutschen Täter:innen bereitet das Opfernarrativ, das sich seit den frühen 1990er-Jahren etabliert hat. Demnach waren alle verurteilten und internierten Deutschen nur Opfer stalinistischer Verfolgungspraktiken.

Jasmin Söhner (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) bestätigte in ihrem Vortrag die Thesen von Julia Landau. Sie beschäftigt sich mit den Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, die sich seit 1999 in der Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg befinden. Dort untersucht sie die westdeutschen Ermittlungen zu Verbrechen in Konzentrationslagern außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Sie stellte dabei fest, dass es schon bei den Grundbegriffen Unstimmigkeiten gibt. Im sowjetischen Sprachgebrauch werden alle deutschen Lager sowie viele Gefängnisse als KZ bezeichnet. Dazu betont sie, dass die sowjetischen Ermittlungsbehörden besonders intensiv die Fälle untersuchten, bei denen sowjetische Bürger:innen unter Kollaborationsverdacht standen. Zwar sind inzwischen die Bestände des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen (und seiner Unterorganisationen zu den einzelnen Lagern) sowie andere Akten in Kopien zugänglich, viele Bestände des Geheimdienstes in den Archiven sind jedoch noch weitgehend unbekannt.

In der abschließenden Diskussion stand die Frage nach der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Institutionen im Vordergrund. Alle Teilnehmenden waren sich einig, dass ein großangelegtes, gemeinsames Forschungsprojekt von Gedenkstätten, Instituten und Dokumentationsstellen zu den Täter:innen im Kontext der Konzentrationslager notwendig sei.

Im Hinblick darauf besteht allerdings noch Klärungsbedarf: Was sind die allgemeingültigen Parameter von Täter:innenschaft? Inwieweit sind dabei Aspekte wie Freiwilligkeit oder Zwang zu berücksichtigen? Wie soll mit Daten jenseits der Archivquellen umgegangen werden? Wie kann man die Forschungsergebnisse transparent und nachvollziehbar gestalten, ohne dabei den Datenschutz zu verletzen? Was wäre ein geeignetes Datenmodell? Kann das Projekt von Anfang an grenzübergreifend angelegt sein und welche Schwierigkeiten sind dabei zu beachten? Nicht zuletzt wurden auch Fragen der Finanzierung und der Nachhaltigkeit der Zusammenarbeit erörtert.

Am Ende des Workshops standen klarere Konturen für die künftige Zusammenarbeit zur weiteren Dokumentation und Erforschung von Täter:innen im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.

Vladislav Drilenko ist wissenschaftlicher Volontär an der Kustodie 2 – Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 – der Gedenkstätte Buchenwald.

var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '21']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();