Buchenwald

Starke Jurist:innen!

Stützen für die Brandmauer

In einer polarisierten Gesellschaft, in der Populist: innen einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte propagieren und in der – angeheizt durch Diskurse in den sogenannten sozialen Medien – Schuldige gesucht und vermeintlich gefunden werden, haben viele Menschen ein verstärktes Bedürfnis nach Halt und Orientierung. Im Ausbildungsund Berufsalltag findet eine Rückbesinnung auf die Frage der eigenen berufsethischen Verortung oft aus Zeitgründen nicht statt. Ein neues Seminar der Gedenkstätte Buchenwald für (angehende) Jurist:innen gibt Raum für die Auseinandersetzung mit dem eigenen beruflichen Selbstverständnis.

Heutige Richter:innen und andere Jurist:innen im Staatsdienst legen zu Beginn ihrer Tätigkeit einen Amtseid ab, ihre Tätigkeit getreu dem Grundgesetz auszuüben. Der nach der Bundesrechtsanwaltsordnung und der Bundesnotarordnung abzulegende Eid verpflichtet Berufsträger:innen zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung. Viele Verbände und größere Unternehmen verfügen inzwischen über Ethikausschüsse. Bedarf es dann überhaupt einer allgemeinen oder individuellen berufsethischen Verortung, einer Klärung des beruflichen Selbstverständnisses für Jurist:innen? Das Grundgesetz bildet doch bereits eine starke Werteordnung, deren höchster Wert die Menschenwürde ist. Und ja, auch die Legislative ist an diese Werteordnung gebunden, sie bildet den Rahmen für alle Gesetze und Verordnungen. Über die Einhaltung dieses Rahmens wacht das Bundesverfassungsgericht.

Ist der deutsche Rechtsstaat damit nicht bereits resilient genug? Nun, das mag aktuell für das kodifizierte Recht gelten, auch wenn sich Rahmenbedingungen der Rechtsetzung verändern können, wie zahlreiche Beispiele in der jüngeren Vergangenheit innerhalb und außerhalb Europas gezeigt haben und zeigen. Das kodifizierte Recht ist jedoch nur ein Teil dessen, was Recht ausmacht: Viele nehmen Recht als etwas Staubiges, Statisches wahr, doch das Recht ist sehr lebendig, es lebt von seiner Umsetzung und damit von den Rechtsanwender:innen. Zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe und Allgemeinklauseln bedürfen der Auslegung, Rechtsfolgen unterliegen häufig dem Ermessen. Es stellt sich also die Frage nach den Maßstäben für das eine wie das andere. Neben den klassischen Auslegungsmethoden, die angehende Jurist:innen im Studium vermittelt bekommen, werden auch Maßstäbe für Ermessensentscheidungen gelehrt. Am Ende stehen aber immer der Mensch und die Welt, in der er lebt und die ihn prägt.

„Das Seminar hat mein Bewusstsein für die große Verantwortung (…) von Jurist:innen in unserer Gesellschaft um ein Vielfaches gestärkt.“

Zitat aus der Reflexion von Teilnehmenden 2023/2024

Es klingt wie eine Binsenweisheit: Menschen sind verschieden. Jeder Richter, jede Staatsanwältin, alle Verwaltungsjuristen oder Rechtsanwältinnen bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit, geprägt durch Sozialisation, Ausbildung, Lebensumstände. Auch das gesellschaftliche, politische und soziale Umfeld prägt Denken und Handeln. Bei allem Bemühen um Objektivität in der Rechtsanwendung ist eine vollkommen objektive Haltung eine Illusion.

Es klingt wie eine Binsenweisheit: Menschen sind verschieden. Jeder Richter, jede Staatsanwältin, alle Verwaltungsjuristen oder Rechtsanwältinnen bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit, geprägt durch Sozialisation, Ausbildung, Lebensumstände. Auch das gesellschaftliche, politische und soziale Umfeld prägt Denken und Handeln. Bei allem Bemühen um Objektivität in der Rechtsanwendung ist eine vollkommen objektive Haltung eine Illusion.

Jede:r ist – gewollt oder ungewollt – Teil zahlreicher Gruppen und nimmt damit mehrere Rollen ein, die Prägungen, Einstellungen mit sich bringen: Jurist:innen sind vielleicht auch Eltern, Mitglieder einer politischen Partei oder einer Organisation der Geflüchtetenhilfe. Vielleicht Mitglieder eines Schützenvereins oder einer Umweltschutzorganisation. Vielleicht Angehörige einer Glaubensgemeinschaft, selbstständig tätige Unternehmer:innen oder Mitglieder einer Gewerkschaft. Anzunehmen, diese und alle anderen denkbaren Zugehörigkeiten wären ohne jeglichen Einfluss auf das Denken und Handeln, würde an der Lebensrealität vorbeigehen. Diese Einflüsse sind nicht zwangsläufig positiv oder negativ, wichtig ist jedoch, sich ihrer bewusst zu sein.

Das gilt auch für den Einfluss, den Sprache auf Wahrnehmung, Denken und Handeln hat. Vor allem rechte Akteur:innen normalisieren eine abwertende, ausgrenzende Sprache. Dieses Vorgehen ist nicht neu, Viktor Klemperer beschrieb es für die nationalsozialistische Rhetorik treffend: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“1

Ein Bewusstsein für jegliche Einflüsse auf das Denken und Handeln braucht es gesamtgesellschaftlich, insbesondere aber in Lebensbereichen, in denen Menschen Entscheidungen für oder über andere treffen, die unter Umständen deren Leben nachhaltig beeinflussen – sei es in der Politik, in der Bildung, in der Medizin, der Pflege oder eben in den klassischen juristischen Berufen. Sich die Gründe für eine Entscheidung bewusst zu machen, ist Kern jeder verantwortlichen Entscheidung.

„Wir arbeiten keine Fälle ab, sondern entscheiden über ein Menschenleben, (…).“

Zitat aus der Reflexion von Teilnehmenden 2023/2024

In der Zeit des Nationalsozialismus standen Rechtsanwender:innen vor derselben Herausforderung. Nun war der NS-Staat kein demokratischer Rechtsstaat, die Rahmenbedingungen für juristisches Handeln gänzlich andere als heute – nicht zuletzt, weil bereits kurz nach der Machtübertragung die zentralen Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft gesetzt wurden. Sehr schnell haben sich die Machthaber außerdem – auch durch Ausnutzung eines juristischen Schlupflochs – in die Position gebracht, am Parlament vorbei neues Recht setzen zu können. In der Folge sind zahlreiche Vorschriften geschaffen worden, die Menschenverachtung zu geltendem Recht machten. Aber: zahlreiche Gesetze aus der Weimarer Republik oder aus dem Kaiserreich bestanden unverändert fort, teils gelten sie bis heute. Doch ihre Anwendung veränderte sich, geprägt durch die nationalsozialistische Ideologie und die Normalisierung der Gewalt gegen diejenigen, die als nicht mehr zugehörig definiert wurden. Die Mehrheit der Juristen (ja, nur Männer – auch das war spätestens ab 1935 eine Folge der nationalsozialistischen Herrschaft) hat sich in das neue System gefügt, ohne nennenswerte Gegenwehr. Abseits der bereitwilligen oder gleichgültigen Anwendung antisemitischer, sozialdarwinistischer, rassistischer oder mit dem Ziel der Ausschaltung politisch Andersdenkender erlassener Gesetze, zeigte sich das auch in Alltagsverfahren wie Miet-, Arbeits- oder Familienrechtsstreiten. Richter mussten – und müssen – sich zum Sachvortrag der Prozessparteien verhalten. Wenn z. B. in den historischen Ehescheidungsverfahren mangelnde politische Zuverlässigkeit oder der Einkauf in sogenannten jüdischen Geschäften im Scheidungsantrag als schwere Eheverfehlungen bezeichnet und zur Begründung des Antrages vorgebracht wurden, konnten sie diesen Sachvortrag zur Grundlage ihrer Entscheidung machen – oder eben auch nicht. Die richterliche Unabhängigkeit blieb auch in der Zeit des Nationalsozialismus unangetastet, auch wenn es Versuche der Einflussnahme gab.

Am Beispiel des Nationalsozialismus lässt sich eindrucksvoll zeigen, wohin eine gesellschaftliche und politische Diskursverschiebung, selbst bei unveränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen, in juristischen Entscheidungen führen kann. Auf der NS-Ideologie fußende und damit im eigentlichen Fallkontext sachfremde Erwägungen führten zu Entscheidungen zu Lasten derer, die vom NS-Staat als nicht zugehörig definiert wurden – oft genug mit gravierenden Folgen für die Betroffenen.

„Vor der Exkursion habe ich immer gewitzelt, dass, wenn Deutschland wieder autoritär wird, ich einfach auswandere. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch sagen würde. Ich habe in den drei Tagen bemerkt, wie sehr ich doch an unserer Demokratie hänge. Ich identifiziere mich mit den Dingen, die wir auf die Zettel geschrieben und an das Brett gepinnt haben.“

Zitat aus der Reflexion von Teilnehmenden 2023/2024

Vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen justiziellen Unrechts, auch im Kontext der im Konzentrationslager Buchenwald begangenen Verbrechen, ermöglicht das Seminar die Auseinandersetzung mit der Rolle von Jurist:innen im demokratischen Rechtsstaat sowie dem eigenen beruflichen Selbstverständnis. Wie zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit – in Europa und darüber hinaus – zeigen, ist das Recht, ist die Justiz einer der ersten Angriffspunkte bei einem antidemokratischen Umbau eines Staates. Auch deshalb brauchen wir „starke Jurist:innen“, die sich ihrer Rolle und ihrer Möglichkeiten bewusst und mit einer klaren Werteorientierung ausgestattet sind. Auch und gerade, wenn in der Gesellschaft antidemokratische und ausgrenzende Einstellungen Zulauf haben.

Das dreitägige Seminar gibt Einblick in die im Konzentrationslager Buchenwald begangenen Verbrechen sowie die Rolle der Gesellschaft und der Justiz in diesem Kontext. In der kritischen Auseinandersetzung mit historischen Gerichtsakten werden Maßstäbe der juristischen Bewertung sichtbar, die Ausgangspunkt für gegenwartsbezogene Fragestellungen sind. Vor allem bietet das Seminar (angehenden) Jurist:innen Raum für die Reflexion ihres beruflichen Selbstverständnisses und eröffnet die Möglichkeit zum persönlichen und fachlichen Diskurs am historischen Ort. Gleichzeitig ermutigt es, am Beispiel der Wirkmacht der nationalsozialistischen Sprache, die Sprache der Gegenwart zu reflektieren. Das Konzept des Seminars ist in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Öffentliches Recht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg von Prof. Dr. Dirk Hanschel entwickelt worden. Es wird dort mit der Möglichkeit des Erwerbs einer sogenannten Schlüsselqualifikation „Berufsethik für Jurist:innen“ angeboten. Es richtet sich aber auch an Referendar:innen und alle Berufsträger:innen.

Julia Treumann studierte Rechtwissenschaften an der Universität Trier und war zwölf Jahre als Rechtsanwältin tätig. Seit 2017 arbeitet sie als Bildungsreferentin in der Gedenkstätte Buchenwald, deren Internationale Bildungsstätte sie inzwischen leitet.

1 Victor Klemperer, LTI, Reclam Taschenbuch, Stuttgart, 23. Auflage 2007, S. 26

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