Als die Soldaten der 3. US-Panzer- sowie der 104. USamerikanischen Infanteriedivision am 11. April 1945 Nordhausen erreichten und dort das KZ Mittelbau-Dora befreiten, entdeckten sie noch vor dem Hauptlager am Kohnstein das Außenlager Boelcke-Kaserne im Stadtgebiet. Ihre Gebäude enthielten seit Januar 1945 das zentrale Kranken- und Sterbelager des KZ-Komplexes Mittelbau. Den Anblick des Grauens, der sich den USTruppen zeigte, hielten zunächst einzelne Soldaten mit ihren Taschenkameras, später auch Angehörige der offiziellen Fernmeldeeinheiten, der US Army Signal Corps, auf Fotos und in filmischen Dokumentaraufnahmen fest.
Mittelbau-Dora
Im April 2025 wird in Nordhausen der neugestaltete Ehrenfriedhof im Rahmen des Programms zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora feierlich eingeweiht. Auf dem Gelände dieser großflächigen Kriegsgräberstätte, die heute mitten im Stadtgebiet liegt, sind mehr als 2.300 KZ-Häftlinge und Zwangsarbeitende sowie mehr als 200 Soldaten der sowjetischen Armee beigesetzt. Es handelt sich um eine der größten und bedeutendsten Friedhofsanlagen in Thüringen, die auch über die Landesgrenzen hinaus einzigartig ist. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte offenbart die wechselhafte und mitunter kontroverse Gestaltung dieses historischen Ortes im zeitlichen Wandel.
Die Bilder von zahlreichen toten, sterbenden und kranken Häftlingen, von gerade noch lebenden, ausgemergelten Gestalten in Häftlingskleidung, machten das „Nordhausen Concentration Camp“ – so wurde die Boelcke-Kaserne in westalliierten Dokumentarfilmen zu den im Frühjahr 1945 entdeckten Orte nationalsozialistischer Verbrechen genannt – weltweit bekannt. Der historische Tatort in Nordhausen wurde in einer Reihe mit anderen wie Ohrdruf, Buchenwald und Gardelegen genannt und zu einem Synonym für die nationalsozialistischen Gräueltaten, für die „German Atrocities“. Unmittelbar nach der Entdeckung begannen die Mitglieder des 329. US Medical Bataillons mit der medizinischen Versorgung der Überlebenden und mit der Bergung der Toten. Dabei wurde auch die Nordhäuser Zivilbevölkerung zur Mithilfe verpflichtet.
Schnell wurde den US-Befreiern nach ihrer Entdeckung der Boelcke-Kaserne deutlich, dass sie einer großen Fläche bedurften, um die mehreren Tausend Toten zu beerdigen. Hierfür wählten sie eine für die landwirtschaftliche Nutzung bestellte Ackerfläche in der Nähe des städtischen Hauptfriedhofs am heutigen Stresemannring, damals noch am Stadtrand gelegen. Innerhalb von drei Tagen wurden 1.278 tote KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter in neu angelegten Grabreihen anonym beigesetzt. Weitere kamen in den darauffolgenden Wochen hinzu: Tote, die bei Aufräumarbeiten aus den Trümmern der Boelcke-Kaserne geborgen wurden, sowie KZ-Häftlinge und Zwangsarbeitende, die nach ihrer Befreiung an den Folgen ihrer jahrelangen Deportation und Haft verstarben.
An der Errichtung der Gräber waren Männer aus der Stadt Nordhausen beteiligt. Die US-Truppen hatten sie dazu verpflichtet, über den gesamten Anstieg des Geländes 30 Reihen für Sammelgräber auszuheben und die Toten aus der Boelcke-Kaserne dorthin zu tragen, um sie würdevoll zu bestatten. Die Arbeit sollte den Nordhäuser:innen das Ausmaß der und ihre Verantwortung für die verübten NS-Verbrechen verdeutlichen. Diese Anordnung war Teil der US-amerikanischen re-education policy. Die deutsche Zivilbevölkerung sollte durch die direkte Konfrontation mit nationalsozialistischen Verbrechen beschämt und durch kurz- wie langfristige Bildungsmaßnahmen zur Demokratie „zurückerzogen“ werden. Was als Sühne- und Bildungsmaßnahme gedacht war, nahmen viele Nordhäuser allerdings als Willkür und Schikane wahr: Die erzwungene Konfrontation mit den sichtbaren Folgen nationalsozialistischer Verbrechen stieß in großen Teilen der lokalen Bevölkerung auf breite Ablehnung und Unverständnis. Hinzu kam ein lokales Entlastungsnarrativ, das in den folgenden Jahrzehnten fortbestand: Da zwei britische Luftangriffe am 3. und 4. April 1945 die Stadt Nordhausen und auch die nicht als Krankenrevier gekennzeichnete Boelcke-Kaserne getroffen hatten, sahen viele Einheimische die Toten als Opfer dieser Angriffe an.
Am 13. Mai 1945 folgte die feierliche Einweihung des neu errichteten Ehrenfriedhofes. Die US-Militärverwaltung
hatte auch diese Zeremonie angeordnet und die Nordhäuser Bevölkerung zur Teilnahme gezwungen. In den darauffolgenden Wochen fanden weitere angeordnete Gedenkveranstaltungen und Zwangsbesuche auf dem Ehrenfriedhof statt. Für die Zivilbevölkerung war der Erhalt von Personaldokumenten und Lebensmittelkarten von einer Teilnahme an diesen befohlenen Besuchen der neu angelegten Grabanlage abhängig.
Auch nach dem Wechsel von der US-amerikanischen zur sowjetischen Militärverwaltung blieb der Ehrenfriedhof ein Ort des Gedenkens. Allerdings veränderten sich sein Erscheinungsbild und die offizielle Form der Würdigung der dort Bestatteten. Zum einen wurde im September 1946 ein Obelisk enthüllt, der den Friedhof namentlich „den Opfern des Faschismus 1933–1945“ widmete, verbunden mit dem Zusatz: „Ihr Opfer soll uns Mahnung sein.“ Zum anderen errichtete die sowjetische Militärverwaltung im Februar 1946 auf einer Erweiterungsfläche einen Ehrenfriedhof für mehr als 200 Angehörige der sowjetischen Armee.
Bis zu ihrer erzwungenen Auflösung 1953 pflegte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) den Ehrenfriedhof am Stresemannring. Danach ging diese Aufgabe an die Stadt Nordhausen über, die bis heute Trägerin dieser Grabstätte ist. Bereits in den 1950er-Jahren gab es immer wieder Beschwerden von KZ-Überlebenden sowie von Angehörigen von Überlebenden und Ermordeten über ein verwahrlostes Erscheinungsbild des Geländes. Ab den 1960er-Jahren setzte sich im kollektiven Gedächtnis der Stadt zunehmend die Bezeichnung „Sowjetischer Ehrenfriedhof“ für das gesamte Gelände durch. Der Zusatz „Ehrenfriedhof für die Opfer des Faschismus“ verschwand allmählich – und damit auch die Erinnerung an die mehr als 2.000 auf ihm bestatteten KZ-Häftlinge und Zwangsarbeitenden.
Nach abermaligen Beschwerden ehemaliger KZ-Häftlinge und ihrer Angehörigen, die ab Ende der 1960er-Jahre zunahmen, über den als „skandalös“ bezeichnetenZustand des „oberen Friedhofes“ – gemeint waren damit die Sammelgräber für die ermordeten KZ-Häftlinge und Zwangsarbeitende, während hingegen die Pflege der Ehrengräber für die sowjetischen Soldaten auf dem „unteren Friedhof“ nicht beanstandet wurde – erfolgte bis Mitte der 1970er-Jahre eine Umgestaltung des Geländes. Seit 1975 erinnerte ein neuer Gedenkstein an den Ort als „Ehrenfriedhof für die Opfer des faschistischen Terrors von 1939 bis 1945.“
Nach der Wiedervereinigung nahmen sich die Stadt Nordhausen und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge des Geländes an, um notwendige gestalterische Veränderungen zu entwickeln. In Vorbereitung auf den Volkstrauertag 1995 sollten 24 rechteckige Granitstelen und zwei Hochkreuze das Erscheinungsbild des Ehrenfriedhofes prägen. Doch zur geplanten Einweihung kam es nicht, das Vorhaben wurde gestoppt: Erneut protestierten Angehörigenverbände gegen die Planungen. Ihre Kritik richtete sich insbesondere gegen die einseitige religiöse Vereinnahmung des Orts durch die beiden Kreuze und eine gestalterische Gleichsetzung bei der Ehrung von deutschen Soldaten, der Zivilbevölkerung und KZ-Häftlingen, die hierbei als letzte Gruppe genannt wurden. Auch die geplante vorrangige Thematisierung der alliierten Luftangriffe vom April 1945 an diesem Gedenkort wurde kritisiert: Sie bediente das gängige lokale Entlastungsnarrativ und blendete die vorherigen historischen Ursachen aus.
In den darauffolgenden Jahren gelang schließlich ein Beratungs- und Aushandlungsprozess, in den erstmals
auch die Überlebenden- und Angehörigenverbände ehemaliger KZ-Häftlinge mit einbezogen wurden. Das Gestaltungsbüro IKON entwickelte das Konzept eines dreieckigen, nach oben hin offenen Gedenkpavillons zur Erinnerung an die auf dem Ehrenfriedhof Beigesetzten. Die Aufschriften an den Wänden waren mehrsprachig. Da das Gelände den Eindruck einer offenen Parkfläche vermitteln sollte, wurden die Grablagen nicht sichtbar markiert, sondern blieben unter einer durchgehenden Grasfläche verborgen. Nach der Einweihung im Oktober 1999 fanden regelmäßig Gedenkveranstaltungen auf dem Gelände statt: insbesondere zum bundesweiten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, zu den Jahrestagen der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora um den 11. April und zum Tag der Befreiung am 8. Mai.
Doch auch wenn es sich im offiziellen Gedächtnis der Stadt um einen bekannten Gedenk- und Erinnerungsort
handelte, gab es weiterhin Beschwerden über das Erscheinungsbild der nicht sichtbar gekennzeichneten Grablagen. In der Öffentlichkeit wurde das Gelände kaum als Friedhof, sondern vor allem als Park wahrgenommen, teilweise sogar als Hundewiese und inoffizielle Motocross- Übungsstrecke genutzt.
Beim 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora im April 2015 kam es zum Eklat: Die Gedenkveranstaltung verlief zwar planmäßig, doch der Anblick von Fahrrad und Motorradspuren auf den Grasflächen über den Gräbern war für die anwesenden Überlebenden und Familienangehörigen so unerträglich, dass sie kurz darauf einen empörten Brief an Nordhausens damaligen Oberbürgermeister Klaus Zeh schrieben. Diese erneuten Proteste veranlassten die Stadt Der im Jahr 1946 errichtete Obelisk. Nordhausen, ab 2018 einen neuen Beratungs- und Gestaltungsprozess zur Veränderung des Ehrenfriedhofs zu beginnen. Im Jahr 2019 berief die Stadt unter Oberbürgermeister Kai Buchmann die Projektgruppe „Neugestaltung des Ehrenfriedhofs“ ein, um konzeptionelle Ideen zur baulichen Veränderung zu entwickeln. Neben dem Thüringer Landesamt für Denkmalpflege wirkte u. a. auch die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora in diesem Gremium mit. Die Sichtbarmachung der Lage der Sammelgräber, ein Informationssystem und eine Wegeführung bildeten Schwerpunkte des neuen gestalterischen Eingriffs ins Gelände. Zugleich sollte der Gedenkpavillon erhalten und in die Gestaltung des neuen Informationssystems einbezogen werden. Auf neuer konzeptioneller Grundlage begannen im September 2023 die Tiefbauarbeiten auf dem Gelände.
Bis Herbst 2024 wurde die Umgestaltung des Friedhofsgeländes baulich abgeschlossen. In sichtbarer und gestalterischer Verbindung mit dem dreieckigen Gedenkpavillon soll das Erscheinungsbild des Geländes nun deutlicher als Friedhof wahrgenommen werden und weiterhin offen zugänglich wirken. Travertinsteine deuten nun die Lage der Sammelgrabreihen an, verbunden mit der sie sichtbar machenden Kennzeichnung durch blockartig bepflanzte Beete. Eingefasst werden sie durch Stahlkanten aus rostrotem Cortenstahl. Dadurch, dass die Travertinsteine keine kompletten Einfassungen bilden, bleibt der offene Charakter des Geländes erhalten. Zugleich sollen die nun sichtbare Optik und Haptik der Sammelgrabreihen dazu beitragen, pietätloses Verhalten an diesem historischen Begräbnisort zu unterbinden. Von zentraler Bedeutung für die Neugestaltung ist die Gleichwertigkeit aller Grablagen für die beigesetzten KZ-Häftlinge und Zwangsarbeitenden: Keine Person, keine Opfergruppe, keine Nationalität, keine Religion sollen hervorgehoben werden. Farblichen Aluminiumtafeln auf Sockeln aus Travertin informieren an ausgewählten Orten auf dem Gelände über die geschichtlichen Ereignisse. Auch die Namen der 262 bekannten KZHäftlinge, die auf dem Gelände beigesetzt sind, werden genannt. Neu ist insbesondere eine Sichtachse zur Boelcke-Kaserne: dem historischen Tatort, der mit dem Ehrenfriedhof als Begräbnisort in enger Verbindung steht. Zu ihrer Freilegung und Gestaltung trug auch die notwendige Fällung einiger beschädigter Bäume auf dem Gelände bei.
Öffentlich zugänglich ist der neugestaltete Ehrenfriedhof bereits seit dem Ende der Baumaßnahmen im Oktober 2024. Auf dem gesamten Gelände gilt nun eine Besuchsordnung, die – vergleichbar mit anderen Friedhöfen – das Befahren mit Fahrrädern und Kraftfahrzeugen, das Entsorgen von Müll außerhalb der Abfallbehälter und sportliche Betätigung verbietet. Ebenso dürfen die sichtbar gekennzeichneten Grabstätten und Grünanlagen nicht beschädigt werden, Hunde sind nun an der Leine zu führen. Dezente aber sichtbare Tafeln weisen Besuchende an den Eingängen auf die Regelungen hin. Die feierliche Eröffnung des Ehrenfriedhofs im Rahmen des 80. Jahrestags der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora am 7. April 2025 erfährt nicht nur in der Region, landes- und bundesweit, sondern auch international große Aufmerksamkeit. Überlebende des KZ Mittelbau-Dora, Angehörige von Überlebenden und Ermordeten sowie Nachkommen der US-Veteranen, die Nordhausen im April 1945 erreicht und die Boelcke-Kaserne entdeckt hatten, werden zu diesem besonderen Anlass erwartet.
Der Rückblick auf die Geschichte des Ehrenfriedhofs zeigt deutlich, dass dieser Ort stets ein Gradmesser und Indikator für den öffentlichen Stellenwert des Gedenkens und des Geschichtsbewusstseins in der Stadt war. Inwiefern die Stadt ihrer bleibenden Verantwortung für den Ehrenfriedhof – als Ort des Erinnerns an die dort Beigesetzten sowie als Lern- und Bildungsort für NSVerbrechen in Nordhausen – auch in den kommenden Jahren nachkommen wird, wird sich im zeitlichen Verlauf zeigen. Schändungen lassen sich auch an diesem Ort verzeichnen: 2011 wurde der Gedenkpavillon mit antisemitischen Parolen beschmiert, 2019 wurde dem Denkmal eines sowjetischen Soldaten der Kopf abgetrennt. Und Stimmen wie etwa die des lokalen AfD-Politikers Jörg Prophet, der immer wieder öffentlich gegen die Neugestaltung des Ehrenfriedhofes wettert, zeigen, dass die nun gefundene erinnerungskulturelle Gestaltung und Würdigung dieses Begräbnisortes keineswegs selbstverständlich und dauerhaft gesichert sind. Orte wie der Ehrenfriedhof in Nordhausen, die von nationalsozialistischen Verbrechen vor Ort im Lokalen zeugen, müssen immer wieder neu ins öffentliche Bewusstsein gerückt und als schützenswert betrachtet werden. Denn sie sind notwendiger und integrativer Bestandteil einer demokratischen und geschichtsbewussten Zivilgesellschaft. Genau deshalb werden sie ebenso wie die engagierten Bemühungen um ihren Erhalt von rechtsextremistischer Seite angegriffen.
Der Historiker Andreas Froese ist Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.