14.000 Menschen aus fast ganz Europa mussten während des Zweiten Weltkrieges in der Universitäts- und
Industriestadt Jena Zwangsarbeit leisten. Im Vorfeld der Eröffnung des Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus nahmen sich Studierende am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit der Universität Jena im Wintersemester 2023/24 dieses Themas an, das in der Universitätsstadt – trotz einer gut bearbeiteten Stadt- und Universitätsgeschichte in anderen Bereichen – bislang nur unzureichend aufgearbeitet ist.1
Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses der Studierenden standen Fragen nach dem Ausmaß und der Rolle
der Zwangsarbeit in Jena sowie nach den jeweiligen Gruppen von Zwangsarbeiter:innen und ihren Einsatzstellen in der Stadt. Besonderes Augenmerk richteten die Studierenden auf die Nutznießenden der Zwangsarbeit und das Wechselverhältnis zwischen den Jenaer Bürger:innen und den zumeist ausländischen Zwangsarbeiter:innen. Auch der Frage nach dem Umgang der Stadt und der Universität mit dem Thema NS-Zwangsarbeit nach 1945 widmeten sie sich.
Museum Zwangsarbeit
Pünktlich zur Eröffnung des Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus ging im Frühjahr 2024 die Website zwangsarbeit-in-jena.de online. Sie dokumentiert mit exemplarischen Fallgeschichten den Einsatz von 14.000 Zwangsarbeiter:innen in der Universitätsstadt. Erarbeitet wurde sie von Studierenden am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Die Studierenden identifizierten Orte und Themen, die exemplarische Tiefenbohrungen in das Thema NSZwangsarbeit in Jena erlauben – einschließlich der Frage, wie am historischen Ort heute damit umgegangen wird. Dafür führten sie Audiointerviews mit Passant:innen und Expert:innen, die seit dem Frühjahr 2024 auf der Website zwangsarbeit-in-jena.de abrufbar sind. Sowohl ältere als auch junge Menschen aus Jena berichteten den Studierenden, was sie über Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus wissen und wie sie die Relevanz des Themas für unser heutiges Leben einschätzen. Es zeigte sich, dass die meisten Passant:innen (zumindest die, die zu einem Gespräch bereit waren) ganz allgemein gesehen recht gut über das Thema informiert sind. Den wenigsten Interviewpartner:innen war aber bewusst, welches Ausmaß die Zwangsarbeit vor Ort hatte und welche Gruppen von Zwangsarbeiter:innen aus welchen Ländern in Jena tätig sein mussten.
Die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus war ein öffentliches Verbrechen, und sie betraf unzählige Menschen.
Allein die Carl-Zeiss-Werke setzten in Jena über 8.000 Zwangsarbeiter:innen ein. Dem Unternehmen widmet die
Website ein eigenes Kapitel. Zudem verdeutlicht sie, dass die NS-Zwangsarbeit auch lokal ein komplexes Thema war, das so unterschiedliche Gruppen wie französische Kriegsgefangene, sowjetische Zivilarbeiterinnen, deutsche „Halbjuden“ oder auch polnische KZ-Häftlinge umfasste – Gruppen, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich stark voneinander unterschieden. Es einte sie allerdings der Umstand, dass es ihnen allen deutlich schlechter ging als den deutschen Einwohner:innen der Stadt.
Zu den Themen, die den meisten Befragten eher unbekannt waren, gehört der „verbotene Umgang“ deutscher
Frauen mit nichtdeutschen Zwangsarbeitern. Zwei Studentinnen konfrontierten Passant:innen mit einem konkreten Fall, der im Hauptstaatsarchiv Weimar überliefert ist: Denunzianten meldeten Irma S. aus Jena der Polizei, weil sie eine Liebesbeziehung mit einem französischen Kriegsgefangenen vermuteten, der Zwangsarbeit für die Stadtverwaltung von Jena leisten musste. Ein Gericht verurteilte Irma S. wegen „GV-Verbrechens“ (GV = Geschlechtsverkehr) zu einem Jahr und drei Monaten Haft. Das Schicksal des Franzosen ließ sich nicht aufklären. Die von den Studentinnen befragten Passant:innen reagierten auf den Fall mit Erschrecken.
Ein weiteres bis heute in der Öffentlichkeit eher unbekanntes Thema ist das systematische Verhungernlassen
neugeborener Kinder von polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiterinnen. Bis Ende 1943 war es üblich, dass schwangere Arbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion zurück in die Heimat geschickt wurden. Später mussten die Frauen in Deutschland bleiben und wurden zumeist gezwungen, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Kam es dennoch zu einer Entbindung, mussten die Frauen gleich wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Die Kinder blieben in „Ausländerkinderpflegestätten“,
in denen die meisten an den Folgen organisierter Vernachlässigung starben. Es handelte sich um ein Massenphänomen: Bis zu 50.000 polnische und sowjetische Neugeborene und Kleinkinder starben zwischen
1943 und 1945 in deutschem Gewahrsam, viele weitere Kinder wurden nach Zwangsabtreibungen gar nicht erst geboren. Ob es auch in Jena eine „Ausländerkinderpflegestätte“ gab, ließ sich durch die Studierenden aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht aufklären. Sie konnten aber anhand der Unterlagen des Standesamts Jena nachweisen, dass von 46 zwischen 1943 und 1945 in der Universitätsfrauenklinik geborenen Kindern polnischer und sowjetischer Frauen allein 19 noch vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres starben. Auch diesem Thema ist auf der Website ein eigenes Kapitel gewidmet.

Die Texte und Interviews auf der Website erlauben eine differenzierte Annäherung an ein Thema, das nur scheinbar vergangen ist. Sie verdeutlichen, dass die NS-Verbrechen nicht nur hinter Wäldern und Bergen oder irgendwo im vermeintlich fernen „Osten“ begangen wurden, sondern in aller Öffentlichkeit, vor der eigenen Haustür – und dass viele Deutsche direkt involviert waren, als Vorarbeiter in den Unternehmen, oder auch als Verwaltungspersonal bei der Stadt Jena oder im Arbeitsamt. Zwangsarbeit betraf fast jede:n, als Opfer, Täter:in oder auch als Nutznießer:in.
1 Wertvolle Hinweise enthalten jedoch u. a. folgende Publikationen: Marc Bartuschka (Hg.) (2015), Nationalsozialistische Lager und ihre Nachgeschichte in der StadtRegion Jena. Antisemitische Kommunalpolitik – Zwangsarbeit – Todesmärsche, Jena; Werner Plumpe (Hg.) (2014), Eine Vision – zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung. München; Uwe Hoßfeld u. a. (Hg.) (2003), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u. a.