Schwerpunkt: Antiziganistische Verfolgung im Nationalsozialismus

Das zerstreute Wissen sammeln

Eine Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma soll erstmals einen Überblick über das Verfolgungsgeschehen in europäischer Perspektive ermöglichen.

Am 13. November 1944 starb der niederländische Sinto Johannes Weisz im Alter von dreißig Jahren in Ellrich-Juliushütte, einem Außenlager von Mittelbau-Dora. Auch der italienische Rom Lionello Levacovich überlebte die Verfolgung nicht. Er war neunundzwanzig Jahre alt, als er am 20. Februar 1945 im Buchenwalder Außenlager Ohrdruf starb. Wer waren diese jungen Männer, auf welchen Wegen kamen sie in die Lager, wer trauerte um sie? Wo könnte ich etwas darüber herausfinden und wer könnte etwas wissen?

Immer stehen zahlreiche Fragen am Beginn biographischer Recherchen, und wenn es um die Opfergruppe der Sinti:zze und Rom:nja geht, bleiben sie oft unbeantwortet. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass dieser Völkermord erst 1982 anerkannt und den Überlebenden kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Viel zu spät nahm sich die historische Forschung des Themas an, und bis heute sind zahlreiche Forschungslücken zu beklagen.

Scan der Hä#äftlingspersonalkarte von Johannes Weisz
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Häftlingspersonalkarte des KZ Buchenwald für den niederländischen Sinto Johannes Weisz, August 1944. Von Buchenwald aus wurde Johannes Weisz in das KZ Mittelbau-Dora überstellt. Er starb am 13. November 1944 im Außenlager Ellrich-Juliushütte.
Schwarz-Weiß-Fotografie von Johannes Weisz, jedoch so körnig, dass sein Gesicht fast unkenntlich bleibt
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Johannes Weisz, Mitte der 1930er-Jahre.

Und doch hat sich seit dem Erscheinen der wegweisenden Studie von Michael Zimmermann im Jahr 1996 nicht nur in Deutschland, sondern international viel getan. Ein Blick in die Bibliographie, die 2015 im Auftrag der International Holocaust Remembrance Alliance zusammengestellt wurde, verweist auf eine Fülle von nationalen, regionalen und lokalen Studien, aber auch auf länderübergreifende Spezialstudien, etwa zum Thema Widerstand oder Erinnerungskultur. Die Online-Edition „Voices of the Victims“, aus der die beiden oben angeführten Beispiele stammen, erschien 2019 und gibt für zwanzig europäische Länder einen Einblick in die Verfolgung und Ermordung von Sinti:zze und Rom:nja. Die Erfahrungen mit dem Editionsprojekt zeigten, dass viele Kolleg:innen in Europa in den letzten Jahren ein enormes Wissen erarbeitet haben, dass dieses Wissen aber sehr schwer zugänglich ist. Es liegt in vielen verschiedenen Sprachen und in Hunderten von Aufsätzen und Büchern vor, was es nahezu unmöglich macht, direkt darauf zuzugreifen. Angesichts der vielfach immer noch vorherrschenden allgemeinen Unkenntnis über den Völkermord schien es daher notwendig, dieses zerstreute Wissen zu sammeln und zu publizieren.

Doch wie kann dieses Wissen sinnvoll aufbereitet werden? Vor dem Hintergrund des Befundes, dass wir einem stark fragmentierten Wissensbestand gegenüberstehen sowie Qualität und Quantität der Forschung für einzelne Länder und Verfolgungskontexte sehr heterogen sind, bietet sich das Format einer Enzyklopädie an. Eine Enzyklopädie ist ein Referenzwerk über das vorhandene Wissen in alphabetischer und systematischer Ordnung – mit dieser Publikationsform kann Wissen in kleinen Einheiten gesammelt, gebündelt, vernetzt und zur Verfügung gestellt werden, ohne dass es einer Gesamtdarstellung des Themas bedarf. Vorbild für die hier vorgestellte Enzyklopädie ist die auf Initiative der Gedenkstätte Yad Vashem von einem internationalen Team erarbeitete Enzyklopädie des Holocaust, die 1990 auf Hebräisch und Englisch und 1993 auf Deutsch erschien.

Die Erarbeitung der Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa konnte im Juli 2020 dank der großzügigen Förderung durch das Auswärtige Amt beginnen. Das Projekt ist an der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg angesiedelt. Aktuell besteht das Projektteam aus der Leiterin (Karola Fings), einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin mit einer ganzen Stelle (Sarah Kleinmann), einem wissenschaftlichen Mitarbeiter mit Schwerpunkt Osteuropa (eine halbe Stelle seit 2023, Martin Holler) sowie zwei studentischen Mitarbeitenden (Nils Lützen, Diana Partel). Mehrere Kooperationspartner:innen und ein wissenschaftlicher Beirat begleiten die Entstehung der Enzyklopädie.

Die Enzyklopädie wird etwa 1.000 Lemmata (Stichwörter von A bis Z) umfassen und online auf Englisch und Deutsch erscheinen. Für das Frühjahr 2024 ist der Launch der Internetseite mit ersten Beiträgen vorgesehen. Danach wird der Wissensspeicher weiter angereichert; auch Aktualisierungen der Lemmata sind möglich. Für Ende 2025 ist die Veröffentlichung einer Druckversion auf Deutsch geplant. Zur Erarbeitung der Lemmata wurden seit 2021 Arbeitsgruppen (AGs) für einzelne Länder gebildet. In diesen AGs wird mit den Autor:innen über die Inhalte, die für die Enzyklopädie aufbereitet werden müssen, diskutiert, und es werden die Lemmata vereinbart, die abzufassen sind. Neben den Lemmata, welche die nationalen Entwicklungen abbilden, wird es überdies Lemmata geben, die bestimmte Themen in gesamteuropäischer Perspektive behandeln. Derzeit wirken 70 Autor:innen aus 22 Ländern an der Entstehung der Enzyklopädie mit.

Die Lemmata der Enzyklopädie befassen sich mit Räumen (Ländern, Regionen, Orten), Tatorten (Internierungen, Lager, Gettos, Mordstätten), dem Verfolgungsapparat (Institutionen, Personen, Konzepte, Gesetze) und den Nachwirkungen (Justiz, Entschädigung, Aufarbeitung, Gedenken). Beiträge zu Begriffen wie Antiziganismus oder Zyklon B sind über ein Glossar zu finden. Für jedes der mehr als 30 Länder, über die in der Enzyklopädie Informationen zu finden sind, werden mehrere Lebenswege von Sinti:zze und Rom:nja aufbereitet. Damit wird die Individualität der von Verfolgung Betroffenen und die Heterogenität der Communities herausgestellt. Eine Chronologie verknüpft das in den Lemmata geschilderte Tatgeschehen in seinen europäischen Dimensionen. Fotografien und Karten bieten visuelle Einstiege in die Verbrechenskomplexe und Tatorte. Die Enzyklopädie wird in vielerlei Hinsicht neue und vertiefende Einblicke in die Geschichte des Völkermordes bieten. Sie wird, so ist zu erwarten, den in Deutschland oftmals vorherrschenden Blick auf das Verfolgungsgeschehen im Deutschen Reich erweitern. Johannes Weisz und Lionello Levacovich werden uns begegnen und Hunderte von Tatorten, deren Namen hierzulande weitgehend unbekannt sind.

Die Historikerin Karola Fings ist seit 2020 Projektleiterin der „Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“ an der Universität Heidelberg. Zuvor arbeitete sie am NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zur Geschichte der NS-Verfolgung.

 

Abakunova, Anna/About, Ilsen (2015): The Genocide and Persecution of Roma and Sinti. Bibliography and Historiographical Review, in: https://www.holocaustremembrance.com/sites/default/files/ bibliography_and_historiographical_review.pdf (2.7.2023)

 

Jäckel, Eberhard/Longerich, Peter/Schoeps, Julius H. (Hrsg.) (1993): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 3 Bände, Berlin.

 

Fings, Karola (2019): Voices of the Victims, in: https://www.romarchive.eu/de/voices-of-the-victims/ (2.7.2023)

 

Zimmermann, Michael (1996): Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg.

 

Das 1995 in Buchenwald eingeweihte Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma erinnert an den Porajmos, den Völkermord, dem die Sinti und Roma zum Opfer fielen.

 

Die Errichtung des Denkmals erfolgte am ehemaligen Block 14, da man hier im ersten Kriegswinter 1939/40 österreichische Roma unterbrachte. 100 schwarze Basaltstelen neben einem kleinen Hügel aus schwarzem Schotter bilden das von Daniel Plaas entworfene Denkmal. Es ist das erste Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in einer deutschen Gedenkstätte. Auf 18 Stelen sind die Namen anderer Konzentrations- und Vernichtungslager zu lesen, in denen Sinti und Roma ums Leben kamen.

Denkmal für die Sinti und Roma im KZ Buchenwald

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