Schwerpunkt: Antiziganistische Verfolgung im Nationalsozialismus

80. Jahrestag der Deportation der Thüringer Sinti:zze in das KZ Auschwitz-Birkenau

Nordbahnhof Erfurt: Schienen und Bahnhofsgebäude
Nordbahnhof in Erfurt, 3. März 2023. Von hier aus wurden die Erfurter Sinti:zze am 3. März 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
©Jens-Christian Wagner

Der 3. März 1943 war der wohl schwärzeste Tag in der Geschichte der Thüringer Sinti:zze. Einige Hundert Frauen, Kinder und Männer wurden an diesem Tag und in den Wochen danach in das sogenannte „Zigeuner-Familienlager“ in Auschwitz-Birkenau deportiert. Nicht nur aus Thüringen deportierte die Polizei Sinti:zze und Rom:nja nach Auschwitz-Birkenau, sondern aus dem gesamten Reichsgebiet (einschließlich dem 1938 annektierten Österreich) sowie aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern Belgien, Luxemburg und Niederlande und dem annektierten polnischen Bezirk Białystok – insgesamt rund 23.000 Menschen. Die meisten wurden von der SS in den dortigen Gaskammern ermordet.

Im Unterschied zu anderen Bundesländern, in denen zum 80. Jahrestag der Deportationen größere Gedenkveranstaltungen mit umfangreichem Begleitprogramm wie Ausstellungen und Lesungen stattfanden (etwa in Hannover oder München), sind die März-Deportationen der Sinti:zze und Rom:nja im Jahr 1943 in Thüringen im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent. Um daran etwas zu ändern und an die Opfer zu erinnern, veranstalteten der Landesverband der Sinti und Roma RomnoKher Thüringen e. V. zusammen mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora am 3. März 2023 eine Gedenkveranstaltung am Nordbahnhof in der Landeshauptstadt Erfurt.

Scan eines Schreibens der Kriminalpolizeistelle Erfurt an den Landrat Nordhausen: Betreff: "Einweisung zigeunischer Personen in ein KZ-Lager"
„Einweisung zigeunerischer Personen in ein KZ-Lager“. Schreiben der Kriminalpolizeistelle Erfurt an den Landrat in Nordhausen, 26. Februar 1943 (S. 1 von 2). Mit Bezug auf den „Zigeunererlass“ von SS-Chef Heinrich Himmler wies die Kripo Erfurt Vorbereitungen zur Deportation von Sinti-Familien aus dem Bezirk Erfurt am 2. März 1943 an.
©Thür. Staatsarchiv Gotha

Am Rasenrain, einem Industriegebiet in der Nähe des Nordbahnhofs, befand sich seit Anfang der 1940er-Jahre ein Zwangslager, in dem Sinti:zze aus Erfurt und umliegenden Gemeinden festgehalten wurden. Grundlage war der sogenannte Festsetzungserlass von SS-Chef Heinrich Himmler, der im Oktober 1943 festgelegt hatte, dass Sinti:zze und Rom:nja ihre Wohnorte nicht mehr verlassen durften. Die Kommunen wiesen sie deshalb in städtische Lager ein, so auch in Erfurt. Im Dezember 1942 befahl Himmler, die deutschen Sinti:zze und Rom:nja in das KZ Auschwitz zu deportieren. Die Umsetzung dieses sogenannten Auschwitz-Erlasses oblag der Kriminalpolizei. Auf Grundlage der von ihr in den Jahren zuvor angelegten Listen wies die Kripo-Leitstelle Erfurt Ende Februar 1943 die Deportation der Sinti:zze aus den preußischen Landesteilen von Thüringen an, darunter auch aus Erfurt.

Am 3. März 1943 umstellten Polizisten das Zwangslager am Rasenrain und trieben fast alle Bewohner:innen zum nahegelegenen Nordbahnhof. Dort wurden sie in Güterwaggons gepfercht. Der Transport endete am 5. oder 6. März 1943 in Auschwitz-Birkenau. Bei den Deportierten handelte es sich u. a. um Angehörige der Familien Kreutz, Laubinger, Unger, Böhmer, Schulz, Sattler, Herzberg, Hartmann und Herzstein, darunter 29 Kinder im Alter von fünf Monaten bis elf Jahren. 21 dieser Kinder sind im Sterbebuch des „Zigeuner-Familienlagers“ Auschwitz-Birkenau aufgeführt. Auch von den Jugendlichen und Erwachsenen dürften die meisten ermordet worden sein.

Der Deportationen im März 1943 und die Ermordung in Auschwitz-Birkenau waren der Schlusspunkt einer sich über zehn Jahre NS-Herrschaft radikalisierenden Politik gegenüber den deutschen Sinti:zze und Rom:nja, einer Politik, an der diverse Behörden von der Polizei über Gewerbe- und Wohnungsämter sowie Arbeitsämter bis zu pseudowissenschaftlichen Stellen wie der „rassenhygienischen und erbbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ beteiligt waren. Letztere erfasste ab 1937 Namen und Daten von 24.000 Sinti:zze und Rom:nja in einem „Zigeunersippenarchiv“, das 1943 als Planungsgrundlage für den Völkermord diente. Seit Mitte der 1930er-Jahre wurden Sinti:zze und Rom:nja zunehmend Wandergewerbescheine entzogen, womit ihnen die wirtschaftliche Lebensgrundlage genommen wurde und viele von staatlichen Sozialleistungen abhängig wurden, was die NS-Propaganda wiederum nutzte, um sie als angeblich asozial zu brandmarken. Zunehmend wurden Sinti:zze und Rom:nja auch zur Zwangsarbeit herangezogen, und ab 1938 wurden im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ neben Juden und angeblich „Asozialen“ auch etliche Sinti:zze und Rom:nja in Konzentrationslager eingewiesen, darunter auch mehrere Sinti aus Thüringen, die in das KZ Buchenwald verschleppt wurden.

Zwei Kränze und Kerzen zum Gedenken an die ermordeten Sinti und Roma.
Kränze des Landesverbandes der Sinti und Roma in Thüringen RomnoKher e. V. und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora am Erfurter Nordbahnhof, 3. März 2023.
©Jens-Christian Wagner

Unverständlicherweise ist die Geschichte der Verfolgung der Thüringer Sinti:zze und Rom:nja im Nationalsozialismus bislang nicht systematisch erforscht worden. Das ist umso überraschender, als die Quellenüberlieferung – zumindest was die Korrespondenz der an der Verfolgung beteiligten Behörden anbelangt – recht dicht ist. Bei den Recherchen zur Ausstellung „Von Auschwitz in den Harz. Sinti und Roma im KZ Mittelbau-Dora“ etwa konnte die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora bei der Erarbeitung des Kapitels „Ausgrenzung und Verfolgung der Nordhäuser Sinti“ in den 1930er- und 1940er-Jahren auf umfangreiches Quellenmaterial der kommunalen Verwaltungen und der Polizei in kommunalen Archiven und im Thüringischen Staatsarchiv Gotha zurückgreifen – teilweise fein säuberlich abgelegt in Akten mit der Aufschrift „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, die vom 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre geführt wurden.

Die Forschungslücke beim Thema ist also wohl vor allem dem Desinteresse der Zeithistoriker:innen wie auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft geschuldet, was sicherlich ganz wesentlich auch durch die andauernde Ausgrenzung der Minderheit nach 1945 bedingt ist. Grundlegende Forschungen zur Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja in Thüringen und ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus sind daher mehr als überfällig – eine Aufgabe, der sich vor allem die Universitäten Jena und Erfurt stellen müssen. Aber auch die Mehrheitsgesellschaft in Thüringen muss für das Thema sensibilisiert werden, nicht nur, weil man es den Opfern schuldig ist, sondern auch wegen der Kontinuitäten der Diskriminierung und Ausgrenzung der Sinti:zze und Rom:nja bis in die heutige Zeit hinein.

Wie wichtig die Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist, zeigen die rassistischen An- und Übergriffe, denen vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtete Rom:nja im vergangenen Jahr in Sömmerda und anderen Städten in Thüringen ausgesetzt waren. Begrüßenswert ist es deshalb, dass der Freistaat Thüringen mit Ministerin Doreen Denstädt im März 2023 endlich eine Antiziganismusbeauftragte einsetzte. Wie nötig das ist, zeigen die Reaktionen der AfD: „Die Einführung eines ‚Antiziganismus-Beauftragten‘ zeigt, wie sehr sich die Landesregierung von der Lebensrealität der Thüringer entkoppelt hat“, ließ Landes-Co-Sprecher Stefan Möller am 11. März 2023, also nur eine Woche nach dem Jahrestag der Deportationen von März 1943, in einer Pressemitteilung des AfD-Landesverbandes wissen und schloss Sinti:zze und Rom:nja aus dem ethnisch definierten Kollektiv „Thüringer“ damit aus.1

An der Gedenkveranstaltung in Erfurt am 3. März 2023 nahm leider nur ein gutes Dutzend Menschen teil, darunter nur sehr wenige Nicht-Rom:nja. Das geringe Interesse mag mit daran liegen, dass der Erfurter Nordbahnhof als Gedenkort weithin unbekannt ist. Das wird sich hoffentlich ändern, wenn, wie derzeit geplant, an dem Gebäude eine Gedenk- und Infotafel zu den Deportationen im März 1943 angebracht wird. Zum 81. Jahrestag im März 2024 werden dann vielleicht auch Vertreter:innen der Stadt Erfurt und der Landespolitik an der Veranstaltung teilnehmen.

Der Historiker Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er kuratierte 2012 die Ausstellung „Von Auschwitz in den Harz. Sinti und Roma im KZ-Mittelbau-Dora“.

Fußnoten

1 Pressemitteilung der AfD Thüringen, 11.3.2023, https://web.archive.org/web/20231218141247/https://www.afd-thueringen.de/thuringen-2/2023/03/moeller-ein-antiziganismus-beauftragter-wird-die-probleme-der-thueringer-nicht-loesen/, abgerufen am 27.6.2023.


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