Buchenwald

Mordechai Strigler und die jiddische Lagerzeitung „Tkhies Hameysim“

Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 begannen die Überlebenden in den verschiedensten Sprachen Informationen zusammenzustellen und sie in Form von Zeitungen zu veröffentlichen. Mit dem Titel „Tkhies Hameysim“ (Auferstehung der Toten) verfassten Mordechai Strigler und weitere befreite Häftlinge am 4. Mai 1945 die einzige bekannte Zeitung, die in Buchenwald in jiddischer Sprache geschaffen wurde.

Einblick in die Zeitschrift "Tkhies Hameysim", hebräische Schriftzeichen
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Seiten von Tkhies Hameysim, Kopien des Moreshet Archive, Mordechai Anielewicz Memorial. Das Original liegt heute restauriert in der Gedenkstätte Yad Vashem.
Einblick in die Zeitschrift "Tkhies Hameysim": hebräische Schriftzeichen
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Seiten von Tkhies Hameysim, Kopien des Moreshet Archive, Mordechai Anielewicz Memorial. Das Original liegt heute restauriert in der Gedenkstätte Yad Vashem.

Die Befreiung am 11. April 1945 beendete für rund 21.000 Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald ihr Leiden. Allerdings waren auch die kommenden Tage, Wochen und Monate noch vom Sterben der allzu geschwächten ehemaligen Gefangenen geprägt. Befreite, die in der Lage waren, versuchten derweil ihre Abreise zu planen. „Wie geht es nun weiter?“, lautete die große Frage, die alle bewegte. Spanische, polnische, tschechische, belgische, französische und deutsche ehemalige Häftlinge versuchten über die aktuelle Lage in der Welt und in Buchenwald selbst zu berichten. So gaben die deutschsprachigen Befreiten vom 14. April bis zum 16. Mai 28 Ausgaben der „Buchenwalder Nachrichten“ heraus und informierten über die aktuellsten Ereignisse. Die Redaktionen versuchten, ein Sprachrohr für ihre jeweilige Nation zu sein und dieser Gehör zu verschaffen, um damit sichtbar zu werden. Die Autoren schrieben über das weitere Vorgehen, etwa die Heimkehr. Nach der Befreiung entstand in Buchenwald ein Internationales Komitee, in dem sich jedoch kein Vertreter explizit um die Belange der jüdischen Überlebenden kümmerte. Vor diesem Hintergrund wurden Mordechai Strigler und seine Unterstützer aktiv. Wer war er und welche Bedeutung maß er einer jüdischen Lagerzeitung bei?

Am 18. September 1918 wurde Mordechai Strigler in Stabrów bei Zamość (Polen) geboren. Dort lebte er mit seiner chassidischen Familie und besuchte ab dem elften Lebensjahr die Talmudschule. Bereits 1937 wurde er Rabbiner und Lehrer in Warschau. Nach Kriegsbeginn wurde er von der deutschen Besatzungsmacht festgenommen und in verschiedene Arbeitslager verschleppt. 1943 kam er in das Konzentrationslager Majdanek, anschließend in das Arbeitslager Skarżysko-Kamienna („Werk C“). Dort mussten Häftlinge ohne Schutz mit Pikrinsäure – einem Bestandteil von Sprengstoff – arbeiten.

Im August 1944 wurde er mit der Häftlingsnummer „68.060“ in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert. Strigler kam in den Block 23, der zur Unterbringung jüdischer Häftlinge diente. Er arbeitete zunäch in verschiedenen Baukommandos. Zu Beginn des Jahres 1945 kam eine Vielzahl von jüdischen Kindern und Jugendlichen aus den aufgelösten Arbeits- und Vernichtungslagern nach Buchenwald. Um deren Überleben zu ermöglichen, richtete die illegale Untergrundorganisation einen speziellen Block im hintersten Bereich des Lagers ein. Im sogenannten Kinderblock 66 mussten die Jungen nicht arbeiten oder wurden zu leichten Tätigkeiten eingesetzt, ihnen wurden teilweise zusätzliche Rationen und Kleidung zugeteilt. Insbesondere bot der Block ihnen Schutz vor der Willkür der SS. Die Häftlinge versuchten, die Kinder zu unterrichten – Mordechai Strigler wurde aufgrund seiner Kenntnisse als Lehrer eingesetzt. Er versuchte, mit ihnen jüdische Lieder oder Gedichte zu rezitieren. Darüber hinaus schrieb er auch immer wieder eigene Texte. Durch die Hilfe des Untergrunds konnten so allein in Block 66 über 600 Kinder und Jugendliche gerettet werden. Insgesamt erlebten rund 900 junge Häftlinge in Buchenwald ihre Befreiung.

Im Mai 1945 begleitete Mordechai Strigler eine Gruppe dieser Kinder nach Paris. Dort begann er seine Arbeit als Redakteur bei der jiddischsprachigen Tageszeitung „Unzer Vort“ (Unser Wort). In den folgenden Jahren verfasste er seine sechs Bände umfassenden Erinnerungen über die Lagerhaft, die den Titel „Oysgebrente Likht“ (Erloschene Kerze) tragen. Sie wurden in den letzten Jahren auch in deutscher Sprache veröffentlicht. Nach vielen Vortragsreisen ließ er sich in New York nieder und wurde 1953 Redakteur bei der Wochenzeitung „Yidisher Kemfer“ (Jüdischer Kämpfer). Ab 1968 schrieb er auch für eine der wichtigsten jiddischen Zeitungen, den „Forverts“ (Vorwärts) und arbeitete dort seit den 1980er-Jahren als Redakteur. 1978 erhielt er den „Itzig-Manger-Preis“ für Jiddische Literatur. 1998 sollte ihm der Ehrendoktor für hebräische Literatur verliehen werden, jedoch verstarb Mordechai Strigler wenige Tage zuvor am 10. Mai.

Schwarz-Weiß-Porträt von Mordechai Strigler
Mordechai Strigler nach seiner Befreiung in Paris.
©Privatbesitz von Leah Strigler

„Wozu eine Zeitung?“ So heißt der erste Artikel der jiddischen Zeitung, die insgesamt sechs Seiten umfasst. Mordechai Strigler wollte darstellen, weshalb eine eigene Zeitung für jüdische Belange notwendig war. Sie sollte als Beweis für eine existierende jüdische Presse dienen, aber auch als Stimme für die am Leben Gebliebenen. Er sprach über die Schwierigkeiten der physischen und psychischen Folgen der Lagerzeit und wollte die Leser:innen in einfacher Sprache über wichtige Fragen und Ereignisse informieren. Des Weiteren richtet Strigler sich auf der ersten Seite auch an die Jungen des „Kinderblocks“: Mit dem kleinen Text „Von meiner Erde“ schreibt Motele (Kurzform für Mordechai und sein Spitzname im „Kinderblock“), dass die Landarbeit sowie ein Leben auf dem Dorf etwas Schönes seien. Dahingegen beschreibt er das Leben und die Arbeit in der Stadt negativ. An Striglers Text schließt sich die Rede von Baruch Goldberg, einem weiteren polnischen Helfer im „Kinderblock“, zum 1. Mai 1945 an, an dem in Buchenwald eine Feierlichkeit stattfand. Er spricht über das Überleben der Juden und die Befreiung durch die Amerikaner. Die polnischen Juden sollten weiterhin kämpfen, um ein unabhängiges demokratisches Polen aufzubauen.

Darauffolgend informierte wiederum Strigler die Leser:innen über wichtige Ereignisse in der jüdischen Welt. Als Grundlage dienten nach der Befreiung nach Buchenwald gebrachte jüdische Zeitungen. Der folgende Artikel beschreibt das Überleben von Jüdinnen und Juden in verschiedenen Ländern. Den Schwerpunkt bildete die Berichterstattung über Polen, kamen doch Mordechai Strigler und seine Helfer allesamt von dort. Die Frage „Wohin?“ beschäftigte die Autoren auch im nächsten Artikel. Wie sollte es für die Überlebenden weitergehen? Bis zur Befreiung hatten die Menschen alles nur mit einem „Wenn“ geplant. Für Franzosen, Belgier u. a. war die Beantwortung der Frage „Wohin?“ einfacher, für Juden aus Polen umso schwieriger. Viele wollten nicht in ihre Heimat zurück, wo sie alles verloren hatten. Ebenso wollten sie nicht jene Menschen wiedersehen, die an ihrer Verfolgung beteiligt waren bzw. ihnen nicht geholfen hatten. Eine Lösung konnte Mordechai Strigler mit dem Artikel nicht liefern, jedoch wollte er die Frage in kommenden Ausgaben weiter diskutieren. Ein ähnliches Thema schnitt Baruch Goldberg in seinem Artikel „Aus dem Albtraum!“ an, wonach die Menschen trotz des Verlustes nun ihr weiteres Leben organisieren müssten, um ein neues Leben schaffen zu können. Auf Seite fünf der Zeitung gab Mordechai Strigler die Feierlichkeiten zum 1. Mai wieder. Neben der Hauptfeier auf dem Appellplatz, wo die verschiedenen Nationen aufmarschierten und es ein Theaterstück zur Geschichte des Lagers gab, erwähnte er auch die jüdischen Feiern. So gab es einen Auftritt der jüdischen Kinder in Anwesenheit des Militärrabbiners Herschel Schacter.

Darauf folgte eine Zusammenfassung verschiedener Themen, die das Leben im befreiten Lager betrafen: Eine Liste von 50 überlebenden Juden aus dem KZ Mittelbau-Dora lag vor, ebenso sollten Erinnerungsberichte gesammelt werden und polnische Juden sich auf Listen registrieren. Die Redaktion berichtete, dass es ein Treffen von polnischen Juden geben solle, die sich mit jenen Problemen beschäftigen, die beim Internationalen Lagerkomitee nicht thematisiert würden. Die Militärrabbiner hatten darüber hinaus für die „jüdischen Blöcke“ Lebensmittel, aber auch Literatur und Presse organisiert. Der Autor berichtete auch über chaotische Lebenssituationen in den Räumen der ehemaligen SS-Kasernen, die zunächst verwüstet worden seien. Die Redaktion schrieb auch über ein Ereignis im Sommer 1944, als ein großer Transport aus Skarżysko-Kamienna in Buchenwald ankam. Über 1.500 Männer wurden im „Zeltlager“ eingepfercht – einem Teilbereich im „Kleinen Lager“. Einige der späteren Akteure des „Kinderblocks“ halfen hier. Sie versuchten, die Angekommenen zu versorgen und zu beruhigen, da die meisten von ihnen den „Ofen“ (d. h. die Ermordung und Vernichtung) fürchteten. Häftlinge in Buchenwald versuchten, besonders die Kinder unter ihnen zu unterstützen. Acht Tage später kamen die meisten in das Außenlager nach Schlieben, ohne dass man ihnen helfen konnte.

Einblick in "Tkhies Hameysim": Erste Seite; hebräische Schriftzeichen
Erste Seite der jiddischen Lagerzeitung.
©Moreshet Archive, Mordechai Anielewicz Memorial

Der letzte Artikel beschäftigt sich mit politischen Neuigkeiten: Es wurde über den Tod von Benito Mussolini und Adolf Hitler berichtet, aber auch über den Tod eines Fabrikleiters der Hugo Schneider AG (HASAG) in Leipzig, der sich selbst in die Luft gesprengt haben soll. Ergänzend informierte die Zeitung über die Gefangennahme von deutschen Soldaten und über das Verschwinden der führenden NS-Politiker Hermann Göring und Joachim von Ribbentrop. Darüber hinaus wird noch das Kriegsende, welches auch in Polen gefeiert wurde, beschrieben. Zum Schluss folgte eine Meldung in eigener Sache, die über die Umstände der Entstehung des Blattes Aufschluss gibt: Es musste schnell gehen. Korrekturen waren nicht möglich, da die Zeitung „die erste Schwalbe [sein sollte], die den Sommer ankündigt“ – als erstes materielles Zeichen jüdischen Lebens in Buchenwald nach der Schoa.

Die Entstehung von „Tkhies Hameysim“ beschrieb der ehemalige Häftling Avraham Ahuvia (1921–2015) 1945 sehr eindrücklich in seinem Tagebuch: „Im Erdgeschoss, in Zimmer 22, hat man zwei Betten aufgestellt, in denen Motel [Mordechai Strigler] und Elek [Eliyahu Grünbaum] schlafen. Ebenso auch verschiedene Möbel, welche ihrer persönlichen Bequemlichkeit dienen. Und noch zusätzlich: einen großen Schrank, viele Schreibutensilien und einen Tisch, auf dem auch noch viel Schreibmaterial gestapelt ist – teils beschriftet und teils noch unbeschriftet. Das ist die Redaktion der neuen jiddischen Zeitung in Buchenwald, welche den schönen Namen ‚Auferstehung der Toten‘ trägt. Motel ist der Redakteur, Autor, Herausgeber… Wir – der Kreis der Buchenwalder Kameraden – helfen ihm und wir wollen eine Zeitung herausgeben, die ein gewisses Niveau hat und welche dafür stehen soll, dass sie in Buchenwald durch den kleinen Rest Juden herausgegeben wurde. Versteht, wir haben keine Druckmaschine und wir schreiben mit der Hand auf ein Blatt wo es ‚eingraviert ist‘ […]. Wir haben heute mit einer Zeitung von 6 Seiten angefangen und wir sind ins statistische Amt gegangen um sie zu ‚[vervielfältigen]‘ – dort hat sich herausgestellt, dass es keine Farbe gibt. Und die Zeitung ist noch nicht herausgegeben.“1

Es scheint, dass die Zeitung aufgrund des allgemeinen Materialmangels nicht vervielfältigt werden konnte. Kurz darauf konzentrierten sich die Herausgeber auf ihre Abreise aus Buchenwald. Einige der Mitstreiter Mordechai Striglers gründeten in den folgenden Wochen den „Kibbuz Buchenwald“ in Egendorf bei Blankenhain und danach auf dem Gehringshof in Hessen. Später gingen sie ins heutige Israel, wo der Kibbuz seit den frühen 1950er-Jahren den Namen „Netzer-Sereni“ trägt.2 Strigler selbst ging nach Paris. Mit der einzigen Ausgabe von „Tkhies Hameysim“ liegt eine einzigartige Quelle aus Buchenwald vor, die die Situation der (polnischen) Juden im befreiten Lager beschreibt. Ebenso bietet die Zeitung einen kleinen Einblick in den seelischen Zustand der Autoren, aber auch in die Interessen der Juden nach der Befreiung – auch sie wollten sich Gehör verschaffen, wollten zeigen, dass sie leben. Dementsprechend ist die Zeitung für die Forschung von immensem Wert. Gegenwärtig werden jiddische Quellen zu Buchenwald besonders in den Fokus genommen und in einem Projekt gemeinsam mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf untersucht. Sie bieten neue Einblicke in die Geschichte des Konzentrationslagers und seiner unmittelbaren Nachgeschichte.

Der Historiker und Jiddist Rene Emmendörffer ist Mitarbeiter im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.

Strigler, Mordechai (2016): Majdanek. Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel. Hg. von Frank Beer, Springe.

 

Strigler, Mordechai (2017): In den Fabriken des Todes. Verloschene Lichter II. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Arbeitslager. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel. Hg. von Frank Beer, Springe.

 

Strigler, Mordechai (2019): Werk C. Verloschene Lichter III. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel. Hg. von Frank Beer, Springe.

Fußnoten

1 Ahuvia, Avraham (1945): Mayn Tog-Bukh [Mein Tagebuch], Buchenwald, S. 91.

2 Hirte, Ronald (2022): Kibbuzim als Überlebendenorganisationen in Israel. Das Beispiel Kibbuz Buchenwald, in: Neumann-Thein, Philipp/Schuch, Daniel/Wegewitz, Markus (Hrsg.): Organisiertes Gedächtnis. Kollektive Aktivitäten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen, Göttingen, S. 343–368.


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