Stiftung

Bereicherung und Herausforderung – Teilhabe und Teilgabe

In den „Reflexionen 2021“ haben wir das „Inklusionsprojekt“ der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora erstmalig vorgestellt. Inzwischen blicken wir auf zweieinhalb Jahre intensiver Arbeit in einem Team aus Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten zurück, sind um viele Erfahrungen bereichert und verfügen über ein breites, in einem inklusiven Prozess entstandenes Angebot an Materialien und Methoden für die Arbeit in inklusiven Settings in den Gedenkstätten. Wenngleich wir noch weit davon entfernt sind, der Vorstellung einer Projektteilnehmerin „dass man sagen kann, wir haben für jeden hier was“ zu entsprechen, so ist es doch gelungen, weit mehr als nur einen Grundstein dafür zu legen, Menschen mit Lernschwierigkeiten einen Zugang zu den Gedenkstätten Mittelbau-Dora und Buchenwald im Allgemeinen und zur Teilhabe an der Bildungsarbeit im Speziellen zu ermöglichen.

Die Ziele, Komplexität zu reduzieren und Orientierung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht zu erleichtern, führten uns dazu, Piktogramme für die Vermittlungsarbeit zu entwickeln. Unter der Prämisse, Inklusion nicht nur als Prozess der Teilhabe, sondern vor allem auch der Teilgabe zu verstehen, war die Piktogrammentwicklung von Beginn an durch intensive Aushandlungsprozesse zwischen Kolleg:innen aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Gedenkstättenpädagog:innen und professionellen Grafiker:innen geprägt. Das hieß für uns, den Adressat:innen der entstehenden Kommunikationshilfen – Menschen mit Lernschwierigkeiten – den größtmöglichen Einfluss auf die Erstellung der Piktogramme einzuräumen.

Die erste Herausforderung zeigte sich bereits in der Suche nach einem geeigneten Grafikbüro, dessen Bildgestaltung den Vorstellungen der Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten entsprach und das gleichzeitig bereit wäre, den inklusiven und damit voraussichtlich zeit- und arbeitsintensiven Prozess mitzutragen. Im Verlauf der Sichtung etlicher, im Stil völlig unterschiedlicher Probepiktogramme verschiedener Gestalter:innen, stellte sich heraus, dass die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten die optische und inhaltliche Klarheit klassischer Piktogramme im Schwarz-Weiß-Kontrast gegenüber anderen kolorierten Entwürfen präferierten. Im Ergebnis hat das Grafikbüro Stiehl/Over/Gehrmann (S/O/G) mit seiner klaren Formensprache eine Mehrheit der Kolleg:innen mit und ohne Lernschwierigkeiten überzeugt. Bekannt sind S/O/G unter anderem für die Piktogramme im Stil des bereits verstorbenen Künstlers Otl Aicher. Dieser wurde 1922 in Ulm geboren, war mit Hans und Sophie Scholl befreundet sowie mit deren älterer Schwester Inge Scholl verheiratet. Er gilt bis heute als einer der einflussreichsten Grafikdesigner der Nachkriegszeit. So prägte er den visuellen Auftritt etlicher Firmen wie etwa der Lufthansa oder populärer Sportereignisse wie den Olympischen Spielen 1972 in München.

Parallel zur Suche eines geeigneten Grafikbüros haben die Projektteams beider Gedenkstätten in der Vermittlungsarbeit in inklusiven Settings zentrale Begriffe ermittelt und definiert. Diese Definitionen bildeten die Grundlage für die ersten Piktogrammentwürfe durch das Berliner Grafikbüro. Ein aufwendiges Verfahren schloss sich an: In einem standortübergreifenden Abstimmungs- und Auswahlprozess wurden diese Entwürfe durch alle Kolleg:innen geprüft und mit Anregungen zur Überarbeitung an die Grafiker:innen zurückgespielt. Eine der Herausforderungen bestand darin, den ortsspezifischen Bedarfen hinsichtlich Erscheinung und Verwendung der einzelnen Piktogramme zu entsprechen. Außerdem war es der Anspruch, dass eine in sich konsistente und auch für andere NS-Gedenkstätten potentiell nutzbare Bildsprache entsteht. Nicht zuletzt setzte auch die besondere Bildsprache der Piktogramme im Stil Otl Aichers einen gestalterischen Rahmen, den es zu berücksichtigen galt. Die Bearbeitung jedes Piktogramms erforderte so bis zu drei Reflexionsschleifen, um den unterschiedlichen Ansprüchen der Beteiligten in Bezug auf Verständlichkeit, Informationsgehalt und die optische Gestaltung zu entsprechen.

Die Rückschau auch auf weitere Teilprozesse im „Inklusionsprojekt“ zeigt, dass die dort gewonnenen Erfahrungen beispielhaft für inklusive Arbeitsprozesse im Allgemeinen stehen. Zentrale Faktoren für das Gelingen waren Zeit und die Bereitschaft aller Beteiligten, sich auf diesen Prozess einzulassen. In diesem Zusammenhang sind wir dankbar für die Zusammenarbeit mit den Grafiker:innen von Stiehl/Over/Gehrmann, die viel Zeit schon vor Beginn des Prozesses investiert und von Anfang an den Aspekt der Teilgabe mitgetragen haben.

Beispiele der erstellten Piktogramme: kleine weiße Tafeln mit schwarzen Icons

©Tim Thonagel

In Arbeitskontexten wird üblicherweise davon ausgegangen, dass alle beteiligten Akteur:innen bereits methodisch befähigt, inhaltlich versiert und mit hinreichender Selbstwirksamkeitserfahrung in ein gemeinsames Projekt einsteigen. Das alles konnte zu Beginn der Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Um bestehenden Unsicherheiten in Bezug auf das historische Themenfeld und den ungewohnten Arbeitsort adäquat begegnen zu können, wurde die Projektgruppe daher von Beginn an intensiv pädagogisch begleitet. Anfänglich ging es darum, die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten dabei zu unterstützen, ihre eigene Perspektive selbstbewusst und nachvollziehbar begründet gegenüber anderen am Prozess beteiligten Personen einzubringen. Ihre aktive Teilhabe setzte somit zunächst den Aufbau einer Vertrauensbasis voraus, damit sie ein Rollenverständnis als Expert:innen in eigener Sache entwickeln konnten. Insbesondere der Aspekt der Selbstwirksamkeitserfahrung musste als mittel- bzw. langfristiges Ziel in die Projektplanung integriert werden.

Eine weitere große zeitliche Herausforderung bestand neben der sozial-emotionalen Begleitung in der inhaltlichen Einarbeitung der Expert:innen in eigener Sache, wie etwa der grundlegenden Orientierung in der Ortsgeschichte. Dieser Prozess musste ohne die von dieser Gruppe eigentlich benötigten Lernmittel wie z. B. Bildungsmaterialien in leicht verständlicher Sprache erfolgen, da diese noch nicht zur Verfügung standen. Die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten waren also mit einer Lernumgebung konfrontiert, die ihren Lernbedürfnissen in vielerlei Hinsicht nicht entsprach. Zudem konnte bei der Annäherung an die historischen Inhalte kaum auf schulisches Vorwissen zurückgegriffen werden. Erschwerend kam hinzu, dass es eines sehr hohen organisatorischen Aufwands bedurfte, die Kolleg:innen von ihren originären Beschäftigungsverhältnissen für die Arbeit in den Gedenkstätten freistellen zu lassen.

Neben den organisatorischen Herausforderungen machten die sozial-emotionalen, methodisch-didaktischen sowie inhaltlichen Gewöhnungs- und Lernprozesse über die gesamte Projektlaufzeit ein sehr kleinschrittiges Vorgehen nötig. Darüber hinaus bedurfte es einer konkreten Rahmung der Teilhabemöglichkeiten: Je konkreter und überschaubarer die Entscheidungsräume für die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten wurden, desto größer wurde die individuelle Beteiligung. Auch verringerte sich im zweiten Projektjahr der Bedarf an durchgängiger pädagogischer Begleitung in den inzwischen zu einem Teil ihres Arbeitslebens gewordenen Arbeitsprozessen in der Gedenkstätte.

Fazit: In inklusiven Entwicklungsprozessen kann der Faktor Zeit nicht in normativ-leistungsbezogenen Maßstäben gedacht werden: vielmehr bedarf das Erarbeiten von Bildungsmaterialien und -methoden in einem echten inklusiven Setting (im Sinne von Teilhabe und Teilgabe) eines hohen Maßes an zeitlicher, methodischer und inhaltlicher Flexibilität.

Beispiel-Piktogramm: Schwarze Icons auf weißem Hintrergrund: Baracken und Stacheldrahtzaun

Die zeitintensiven Gewöhnungsprozesse mündeten für die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten in einer Vertrautheit mit den inhaltlichen und methodisch-didaktischen Aspekten der Projektarbeit. Von diesem Punkt an waren sie mehrheitlich in der Lage, informierte Entscheidungen zu treffen, diese selbstbewusst zu begründen und sich mit neuen Themenbereichen auseinanderzusetzen. Dieser Lernerfolg ist einerseits ein Beleg für die gelungene inklusive Zusammenarbeit, die sich auch auf eine entstandene Vertrautheit mit den Teamkolleg:innen vor Ort und mit der Gedenkstätte als Arbeitsort stützen kann. Andererseits führt dies zu einer „Entwöhnung“ von der zugeschriebenen Rolle als Expert:innen in eigener Sache. Konkreter formuliert: Die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten haben sich im Verlauf des Projekts inhaltlich in einem Maße eingearbeitet, dass sie für die Frage der Entwicklung von Methoden nicht mehr vorbehaltlos als Expert:innen für Schwierigkeiten im Verstehen gesehen werden können.

Dieses unsererseits als Vertrautheits–Entwöhnungs– Dilemma beschriebene Phänomen stellt im Ergebnis dennoch kein Hindernis für zukünftige inklusive Entwicklungsprozesse dar. Es bietet vielmehr die Chance, an die erworbenen Kompetenzen der Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten anzuknüpfen und den vielschichtigen historischen Ort der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora mit dem Fokus auf kognitive Barrieren breiter zu erschließen. Für die Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten sind nun außerdem die ersten Voraussetzungen dafür erfüllt, die gemeinsam entwickelten Methoden bzw. Materialien selbst anzuwenden und somit perspektivisch auch an der Vermittlungsarbeit in den Gedenkstätten teilhaben zu können: Aktuell entsteht in der Gedenkstätte Buchenwald gemeinsam mit den Kolleg:innen mit Lernschwierigkeiten ein Rundgangskonzept in leicht verständlicher Sprache, in dem sie oder auch weitere Interessent:innen selbst als Vermittler:innen agieren können.

Beispiel-Piktogramm: Schwarzes Icon auf weißem Hintergrund: SS-Mann

In der Rückschau auf das nun endende erste „Inklusionsprojekt“ können wir mit Freude konstatieren, dass ein Team aus Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten entstanden ist, welches durch das Einbringen vieler neuer Perspektiven unseren Arbeitsalltag bereichert – auch über die Bildungsabteilung hinaus. Des Weiteren sind in den letzten zweieinhalb Jahren in beiden Gedenkstätten Methoden und Materialien entstanden, die ein Lernen am historischen Ort für Menschen mit Lernschwierigkeiten erleichtern und auch in zunehmend heterogenen Gruppen in inklusiven Settings Anwendung finden können. Oder, um es mit den Worten einer Kollegin mit Lernschwierigkeiten zu sagen: die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora bieten nun etwas „[…] für Schüler und Erwachsene, die lesen können und für Schüler und Erwachsene, die nicht so lesen können […]“ und wirken damit – ganz in unserem Verständnis von Inklusion – über das Projekt hinaus. Wir freuen uns, dass die Zusammenarbeit mit den nun nicht mehr neuen Kolleg:innen aus der Werkstatt in der Gedenkstätte Buchenwald eine Verstetigung erfahren wird und wir den begonnenen Weg gemeinsam fortsetzen können. In der Rückschau auf das Teilprojekt der Piktogrammentwicklung, stehen als Ergebnis 19 inklusiv erarbeitete Piktogramme zur Verfügung, die das Verstehen historischer Inhalte, die zeitliche Orientierung sowie eine gegenwartsbezogene Reflexion für Menschen mit Lernschwierigkeiten erleichtern. Und „ganz nebenbei“ eröffnet die Bildsprache Otl Aichers einen spannenden Zugang zur Auseinandersetzung mit einem Design, das sich explizit über die Abgrenzung zum Nationalsozialismus definiert. Was könnte aktuell in der historisch-politischen Bildung wichtiger sein?

Franziska Bula und Tim Thonagel arbeiten derzeit als Mitarbeiter:innen in der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Buchenwald mit dem Arbeitsschwerpunkt ,Inklusion‘.

Nerdinger, Winfried (2022): „mein denken war andenken gegen hitler“, in: Nerdinger, Winfried/Vossenkuhl, Wilhelm (Hrsg.), Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker. München, S.22–33.


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