Stiftung

Gedenkstätten dürfen nicht neutral sein!

Im Jahr 2024 unternahm die Alternative für Deutschland (AfD) den Versuch, die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora gerichtlich daran zu hindern, sich gegen den Geschichtsrevisionismus ihrer Parteimitglieder zu positionieren. Dieser Versuch scheiterte vor dem Verwaltungsgericht Weimar.

Im August 2024, kurz vor der Landtagswahl in Thüringen, unternahm die Stiftung einen ungewöhnlichen Schritt: Sie ließ über 300.000 Briefe als Wurfsendung verteilen. Empfänger waren Haushalte, bei denen die Deutsche Post davon ausgeht, dass in ihnen überwiegend Menschen über 65 Jahre wohnen.

Für uns ungewöhnlich war die Form einer Postwurfsendung, nicht jedoch ihr Inhalt: Denn in den vergangenen Jahren haben führende Mitglieder der AfD, die in Thüringen seit 2021 vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft ist, wiederholt versucht, die Arbeit der Stiftung zu behindern und geschichtsrevisionistische Positionen zu verbreiten, die den Holocaust kleinreden und das Leid der NS-Opfer verhöhnen: in Reden auf Marktplätzen und Postings in den Sozialen Medien, mit dem Anbringen von Wahlplakaten an den Gedenkstätten, durch das Stören von Veranstaltungen und Seminaren.

Auf diese andauernden Angriffe auf ihre Arbeit hat die Stiftung immer wieder über ihre sozialen Kanäle aufmerksam gemacht. Vor der Landtagswahl wollte die Stiftung auch jene Thüringer:innen darüber informieren, die üblicherweise nicht so aktiv in den digitalen Medien sind. Und sie wollte zugleich das Credo der Überlebenden von Buchenwald und Mittelbau-Dora in Erinnerung rufen: „Nie wieder!“ In dieser Hinsicht war das Angebot des Vereins Campact für die Stiftung nur folgerichtig: Mit den Mitteln seiner privaten Spender:innen bot er an, eine Postwurfsendung an ausgewählte Haushalte in Thüringen zu finanzieren.

Die Beiträge, mit denen die Stiftung auf „X“ und „Facebook“ die Postwurfsendung begleitete, waren die meistkommentierten des Jahres. Neben Hunderten von Danksagungen gab es auch zum Teil wüste Beschimpfungen. Befeuert von faktenwidrigen Posts von AfD-Vertretern, die eine „Verschwendung“ von Steuermitteln und eine unrechtsmäßige Benutzung von Adressen behaupteten, erhielt die Stiftung zahlreiche Anrufe, Mails und Briefe mit teilweise strafrechtlich relevanten Inhalten. NS-Parolen wurden niedergeschrieben, Galgen aufgemalt.

Angesichts dieses Ausbruchs rechtsextremen Hasses war die Stiftung nicht allein: Über 50 Gedenkstätten, Hochschulen und Institutionen solidarisierten sich und verurteilten die persönlichen Bedrohungen gegen Jens-Christian Wagner. Sie stellten unmissverständlich klar: „Es gehört zu den Grundaufgaben zeithistorischer Gedenkstätten und Erinnerungsorte, allen geschichtsrevisionistischen Bestrebungen entgegenzutreten und sich für die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte einzusetzen.“

Ob die Postwurfsendung ihr Ziel tatsächlich erreicht hat, insbesondere ältere Wählerinnen und Wähler vor der Landtagswahl über den Geschichtsrevisionismus der Thüringer AfD zu informieren, bleibt letztlich unklar. Ein Vergleich der Wahlstatistiken zwischen Thüringen und Sachsen deutet jedoch darauf hin, dass die Aktion möglicherweise Einfluss hatte: Die AfD erreichte am 1. September 2024 in Sachsen in der Gruppe der über 70-Jährigen 24 Prozent. In Thüringen, wo sie insgesamt stärker als in Sachsen abschnitt, jedoch nur 19 Prozent.

Die AfD beließ es jedoch nicht bei ihrer Kampagne in den Sozialen Medien, sondern orchestrierte nun ihre Rechtsanwälte und Parlamentarier:innen, um zu erzwingen, dass Gedenkstätten nicht mehr das Recht haben, geschichtsrevisionistische Bestrebungen zu kritisieren und sich für die Menschenrechte einzusetzen.

Zunächst wurde die Stiftung per Fax am 26. August 2024 durch einen vom Thüringer AfD-Vorsitzenden Höcke beauftragten Rechtsanwalt aufgefordert, „verfälschende Sachverhaltsdarstellungen“ zu unterlassen. Die Stiftung sei zudem an das „staatliche Neutralitätsgebot“ gebunden und ihre Aussagen „nicht durch den Stiftungszweck“ gedeckt.

Zwei Tage später legte die Thüringer AfD beim Verwaltungsgericht Weimar nach und beantragte, die Stiftung solle „im Wege der einstweiligen Anordnung“ gezwungen werden, den Brief und die zugehörigen Erläuterungen von ihrer Website zu entfernen. Andernfalls drohe ein „Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 Euro“. In der Begründung heißt es grundsätzlich: „Der Prozess der politischen Willensbildung ist nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet fortlaufend statt.“ Daher dürften Amtsträger, also auch die Stiftung, per se nicht in diese Willensbildung „zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern“ eingreifen.

Drei Tage später, am 29. August 2024, stellten Alice Weidel und Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag eine „Kleine Anfrage“ an die Bundesregierung. Obwohl das Verfahren der Wurfsendung von Anfang an öffentlich gemacht worden war, wurde erneut gefragt, wie die Stiftung an die Adressen gelangt sei und welche finanziellen Mittel eingesetzt worden seien. Die weiteren Fragen zielten dann auf den eigentlichen Punkt ab, dass nämlich das Agieren der rechtsextremen AfD nicht von Gedenkstätten analysiert und kritisiert werden dürfe. Zum Beispiel: „Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass staatliche Gedenkstätten ihrer Aufgabe […] nachkommen, ohne in laufende parteipolitische Auseinandersetzungen einzugreifen?“

Die Bundesregierung verwies in ihrer Antwort vom 16. September bereits auf den grundlegenden Rahmen, in dem die Frage „Was dürfen Gedenkstätten?“ zu stellen ist: „Sowohl das parteipolitische als auch das religiös-weltanschauliche Neutralitätsgebot sind nicht losgelöst von ihrem Verhältnis zu anderen verfassungsrechtlichen Geboten zu verstehen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Menschenwürde, der Wesensgehalt der Grundrechte und die sog. Strukturprinzipien (Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip samt Gewaltenteilung), die als unveränderliche Grundsätze in der Verfassung festgeschrieben sind.“ In den folgenden Wochen sollte diese Abwägung das Verwaltungsgericht in Weimar intensiv beschäftigen.

Zur eigentlichen Postwurfsendung stellte das Gericht in seinem Beschluss, der am 5. November 2024 veröffentlicht wurde, fest: „Der Brief bietet keinen Anlass zur Beanstandung. Die in ihm mitgeteilten Tatsachen sind zutreffend und die Wertungen und Interpretationen beruhen auf einem jeweils sachgerecht gewürdigten Tatsachenkern.“ Ein derartiger Brief sei auch kurz vor einer Wahl nicht zu beanstanden, denn: Die Stiftung „darf auch im Hinblick auf eine bevorstehende Wahlentscheidung konkrete Tatsachen mitteilen und bewerten.“

Lediglich ein Nebensatz im Begleittext auf der Website, der die allgemeine Hoffnung äußert, dass der Brief zu einer anderen Wahlentscheidung führen könnte, verstoße gegen die Neutralitätsverpflichtung, der auch die Stiftung unterliege. Konkret bedeutet dies: Die Stiftung darf jederzeit auf die von ihr analysierten Tatsachen verweisen; „es steht ihr indes nicht zu, eine aus diesen Tatsachen und Wertungen folgende Wahlentscheidung unter Nennung einer bestimmten Partei vorwegzunehmen. Die Entscheidung, welche Folgerungen hinsichtlich der Wahlentscheidung bezüglich der konkret zur Wahl stehenden Parteien zu ziehen sind, steht allein dem Wähler zu.“ Diese Feststellung ist nicht nur in demokratietheoretischer Hinsicht relevant, sondern entspricht auch dem „Beutelsbacher Konsens“, der vor allem Wert auf die Gewinnung eines selbständigen Urteils legt. Als Bildungsinstitution hat die Stiftung daher gegen diese Feststellung keinen Einspruch eingelegt.

Besonders wichtig für die Rolle und die Befugnisse der Stiftung sind jedoch die über den konkreten Beschluss zur Postwurfsendung hinausgehenden Überlegungen des Gerichts. Aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung auch für andere Gedenkstätten sollen sie hier ausführlicher zitiert werden.

Ausgangspunkt ist der im Stiftungsgesetz formulierte Zweck der Stiftung. Aus ihm „ergibt sich die Befugnis der aktiven Ausgestaltung des Gedenkens in Form der sachlichen Einordnung und Bewertung politischer Äußerung, die einen Bezug zu der Würde der Opfer haben. […] Eine solche Einordnung kann nicht neutral erfolgen, sondern setzt das aktive Eintreten für die Opfer voraus. […] Die [Stiftung] ist die Stimme der Opfer, die selbst nicht mehr aktiv an der Erinnerungsarbeit teilnehmen können.“

Um ihren Stiftungszweck zu erfüllen, so das Verwaltungsgericht Weimar, sei die Stiftung daher nicht nur befugt, sondern verpflichtet, zu geschichtsrevisionistischen Bestrebungen Stellung zu nehmen: „Das Eintreten für die Würde der Opfer erfordert es, dass die Antragsgegnerin jeder Relativierung oder Geringachtung des Leidens der Opfer aktiv entgegentritt und diese Geringachtung auch unter Benennung der entsprechenden Äußerungen und der Personen und Institutionen, von denen die Äußerungen stammen, darstellt. Hierzu zählen auch Äußerungen, die in einer politischen Auseinandersetzung getätigt werden. Man würde der Antragsgegnerin die Möglichkeit, ihren Stiftungszweck zu verfolgen, entziehen, wenn sie dazu nicht Stellung nehmen und sie einordnen dürfte.“

Ihr besonderer Stiftungszweck weist der Stiftung in der demokratischen Öffentlichkeit daher eine eigene Rolle mit eigenen Befugnissen zu: „Diese Befugnis, auch in einer politischen Auseinandersetzung aktiv für die Belange des Stiftungszwecks Stellung zu nehmen, grenzt sie von anderen Hoheitsträgern ab. Aufgrund ihrer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung ist sie hier und ausnahmsweise mit anderen Trägern öffentlicher Gewalt nicht vergleichbar.“

Aus dem Stiftungsgesetz (§ 2)
„(1) Zweck der Stiftung ist es, die kritische Auseinandersetzung mit den im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und deren Folgen zu fördern und die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora als Orte der Trauer und der Erinnerung an die zahllosen Opfer zu bewahren, wissenschaftlich begründet zu gestalten und sie in geeigneter Weise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“

Der Beschluss des Weimarer Verwaltungsgerichts definiert in bemerkenswerter Weise den besonderen Platz, den Gedenkstätten in einer demokratischen Gesellschaft einnehmen. Der Bezug auf das Stiftungsgesetz macht deutlich: Der Freistaat Thüringen hat mit ihm der Stiftung den klaren Auftrag erteilt, die Würde der Opfer zu bewahren. Dieser Auftrag ist nicht neutral; wenn diese Würde angegriffen wird, ist die Stiftung aufgerufen, zu handeln. Dafür wurde sie geschaffen.

Diese besondere Rolle lässt sich auch historisch einordnen: In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erhielten KZ-Gedenkstätten fast 50 Jahre lang keinerlei staatliche Förderung des Bundes. Erst mit dem Einigungsvertrag übernahm der Bund die institutionelle Mitfinanzierung der nun ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR in Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Inzwischen werden alle großen KZ-Gedenkstätten vom Bund gefördert.

Es kann also gesagt werden: Mit den KZ-Gedenkstätten hat sich die Bundesrepublik Deutschland bewusst – wenn auch sehr spät – institutionalisierte Orte geschaffen, von denen aus die Gegenwart historisch aufgeklärt und kritisch befragt werden kann. Sie übernehmen in gewisser Hinsicht die Funktion eines Widerlagers für eine demokratische Gesellschaft: Mit ihrem Blick auf die Erfahrungen der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen sind sie in besonderem Maße dazu in der Lage, gefährliche Entwicklungen wahrzunehmen, zu analysieren und zu kritisieren. Dadurch können sie auch als Anstoß dienen, diesen Gefahren entgegenzuwirken und sie auszugleichen.

Das indirekt im Grundgesetz verankerte sogenannte staatliche Neutralitätsgebot, das sich auf die Chancengleichheit von Parteien im politischen Wettbewerb bezieht, kann nicht gegen diese Funktion der KZ-Gedenkstätten ausgespielt werden. Denn das Grundgesetz begründet ja ebenfalls keine neutrale Ordnung, sondern stellt einen Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Staat dar. Sein nicht verhandelbarer Grundsatz, der Artikel 1, lautet bewusst: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Weimar macht deutlich, dass es der Auftrag der Gedenkstätten ist, auch Positionen von Parteien und ihren Funktionsträgern zu thematisieren und zu analysieren. Handelt es sich um Positionen, die die Würde der Opfer angreifen, haben sie nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, diese Positionen einzuordnen und ihnen zu widersprechen. Weder das Recht der Parteien auf Chancengleichheit noch Regelungen des öffentlichen Dienstes oder didaktische Prinzipien der Bildungsarbeit wie das Kontroversitätsgebot stehen dem entgegen.

Im Gegenteil: Die Auseinandersetzungen, die die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in den vergangenen Jahren führen musste, verdeutlichen, dass es in Zukunft immer weniger ausreichen wird, vor Ort lediglich Ausstellungen zu entwickeln und angemessene Bildungsformate anzubieten. Es wird zunehmend zu den Pflichten der Stiftung gehören, Positionen, die ihrem Stiftungszweck entgegenstehen, aktiv zu thematisieren. Sie wird die Würde der Opfer nicht nur am historischen Ort verteidigen, sondern, wenn nötig, auch auf Marktplätzen und im digitalen Raum.

Es ist selbstverständlich, dass diese Thematisierung sachlich, wissenschaftsbasiert und tatsachengerecht erfolgt – wenn auch nicht neutral. Nachprüfbare wissenschaftliche Standards werden weiterhin die Grundlage für die Etablierung der damit verbundenen neuen Aktionsformen und Bildungsformate bilden. Daher erfolgt ihre Entwicklung auch in enger Abstimmung mit dem internationalen wissenschaftlichen Kuratorium der Stiftung.

Der Beschluss und die Argumentation des Weimarer Verwaltungsgerichts zeigen eindringlich: Nur indem die Stiftung sich diesen neuen Herausforderungen stellt, kann sie ihren Stiftungszweck auch in Zukunft erfüllen. Zwei Projekte des Jahres 2024 – die Website „Geschichte statt Mythen“ und die Veröffentlichung der neuen forensischen Gutachten zur Nutzung menschlicher Haut im KZ Buchenwald – sind aktuelle Beispiele für diese zusätzlichen Formate der Stiftung, mit denen sie in der Öffentlichkeit für die Würde der Opfer und gegen die geschichtsrevisionistische Verharmlosung der NS-Verbrechen streiten wird.

Rikola-Gunnar Lüttgenau arbeitet seit 1992 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gedenkstätte Buchenwald. Heute ist er verantwortlich für die strategische Kommunikation der Stiftung.

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