Derzeit agieren die Gedenkstätten in einem vierfachen Transformationsprozess: Zum einen ist mittlerweile das seit den 1990er-Jahren angekündigte Ende der Zeitzeugenschaft nun wirklich gekommen: Es gibt kaum noch jemanden, der als Zeuge über die Verbrechen berichten kann. Auch für die Adressaten dieser Berichte, jugendliche Gedenkstättenbesucherinnen und -besucher, rückt die Zeit des Nationalsozialismus immer weiter weg. Sie erleben den oftmals vorgetragenen Appell, sich an etwas „erinnern“ zu sollen, was selbst ihre Großeltern nicht mehr unmittelbar erlebt haben, als moralisch aufgeladene Überforderung. Man sieht förmlich den erhobenen Zeigefinger: „Erinnert Euch!“
Zweitens hat sich seit einigen Jahren das politische Klima in Deutschland und Europa mit dem Erstarken rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien deutlich geändert. Gedenkstätten sind zunehmendem Geschichtsrevisionismus ausgesetzt – eine Herausforderung, auf die sie reagieren müssen.
Drittens verändert die Digitalisierung die Wissensaneignung und die Meinungsbildung in der Gesellschaft radikal. Auch das erfordert neue Bildungskonzepte und -formate.
Viertens leben wir in einer Migrationsgesellschaft. Viele Besucher:innen von Gedenkstätten haben keinerlei persönlichen oder familiären Bezug zur NS-Zeit oder zur DDR, sehr wohl aber eine Verfolgungserfahrung in anderen Ländern. Um erfolgreich arbeiten zu können, werden sich Gedenkstätten auch mit anderen Gesellschafts- und Regimeverbrechen auseinanderzusetzen haben, ohne deutsche Verbrechen insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus zu relativieren und ihre Opfer zu instrumentalisieren.
Aus den genannten Herausforderungen ergeben sich drei Aufgaben der Stiftung für die kommenden Jahre:
- Die Methoden und Inhalte der Bildungsarbeit in den Gedenkstätten müssen an den generationellen Umbruch und an die wachsende gesellschaftliche Vielfalt angepasst werden.
- Zur Bestandssicherung der Sammlungen und der baulichen Relikte gehört ihre digitale Erfassung und Präsentation. Medialer „Fake History“ muss eine wissenschaftlich begründete, seriöse Information entgegengesetzt werden.
- Dem Erstarken von Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und antidemokratischem Denken muss wissenschaftlich fundiert, aus der Geschichte heraus argumentierend, ein klares Eintreten für eine humane, demokratische und weltoffene Gesellschaft entgegengesetzt werden.
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner
[aus: Jens-Christian Wagner: Geschichte begreifen - für die Zukunft handeln. Die Stiftung vor neuen Aufgaben, in: Reflexionen 2021, Jahresmagazin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora]