Die mit einem rosa Winkel gekennzeichneten homosexuellen Häftlinge bildeten in den Lagern Buchenwald und Mittelbau-Dora eine zahlenmäßig kleine Gruppe. Bereits mit der Errichtung des KZ Buchenwald im Sommer 1937 begann die SS auch Homosexuelle in das Lager zu verschleppen. Das KZ Mittelbau-Dora entstand im August 1943 als Außenlager des KZ Buchenwald. Die Häftlinge wurden aus dem Hauptlager in das neu gegründete Außenlager transportiert. Unter ihnen waren auch viele Homosexuelle.
Obwohl die homosexuellen Häftlinge in beiden Lagern nur eine Minderheit darstellten, unterschied sich ihre Stellung in der Lagerhierarchie. Im KZ Buchenwald standen sie an unterster Stelle und ein Aufstieg gelang nur sehr wenigen. Im KZ Mittelbau-Dora hingegen gelang es einigen homosexuellen Häftlingen, Funktionsposten zu erlangen.
KZ BUCHENWALD
Im Juli 1937 trafen die ersten Häftlinge auf dem Ettersberg bei Weimar ein. Die SS zwang sie, das KZ Buchenwald zu erbauen. Sowohl politische Gegner des Regimes als auch aus sozialen und rassistischen Gründen Verfolgte sollten dort interniert werden.
Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verschleppten die deutschen Besatzer Hunderttausende Gefangene aus ganz Europa ins Deutsche Reich. Bis zum Kriegsende entwickelte sich das KZ Buchenwald zum Mittelpunkt eines ausufernden Lagernetzes mit insgesamt 139 Außenlagern. Dort waren teilweise auch Frauen untergebracht. Die Häftlinge mussten Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten. Insgesamt waren im Lagerkomplex Buchenwald rund 280.000 Menschen inhaftiert, mehr als 56.000 starben.
Unter den Gefangenen bildeten die als homosexuell Verfolgten eine kleine Minderheit. In der Hierarchie des Lagers standen die mit einem Rosa Winkel markierten Häftlinge weit unten, ihre Todesrate war besonders hoch.
KZ MITTELBAU-DORA
Das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen in Nordthüringen wurde erst im August 1943 eingerichtet. Zunächst war es unter der Bezeichnung „Dora“ ein Außenlager des KZ Buchenwald. Im Oktober 1944 erklärte es die SS zum eigenständigen KZ Mittelbau. Am Ende bestand es aus einem Komplex von fast 40 Lagern, die sich über den gesamten Harz erstreckten.
Die Häftlinge mussten auszehrende Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie und auf Baustellen leisten. Insgesamt verschleppte die SS etwa 60.000 Häftlinge in das KZ Mittelbau. Nur eine kleine Minderheit von ihnen waren Deutsche. Zu ihnen gehörten gut 200 Häftlinge mit dem rosa Winkel.
Jeder dritte Häftling verlor im KZ Mittelbau-Dora sein Leben. Die meisten starben an Hunger und Krankheiten, durch Arbeitsunfälle und Erschöpfung. Aber auch Hinrichtungen gehörten zum Alltag der Gefangenen. Beim Herannahen der Amerikaner ließ die SS die Lager des KZ-Komplexes Mittelbau-Dora Anfang April 1945 nahezu vollständig räumen.
MIT UND OHNE ROSA WINKEL: WER GALT IM KONZENTRATIONSLAGER ALS HOMOSEXUELLER HÄFTLING?
Es ist schwer zu erfassen, wie viele homosexuelle Häftlinge es in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora wirklich gab. Etwa 650 Männer wurden in beiden KZs unter der Haftkategorie „homosexuell“ erfasst und mit dem rosa Winkel gekennzeichnet.
Zusätzlich gab es mehrere Häftlinge, die trotz Verurteilung nach § 175 nicht unter der Kategorie „homosexuell“ erfasst wurden, sondern als „Berufsverbrecher“ (BV) oder „Sicherungsverwahrte“ (SV). Auch die Kategorisierung als „asozial“ war möglich. Zudem gab es auch Häftlinge, die aus rassistischen oder politischen Gründen ins KZ eingewiesen worden waren und deren Homosexualität der SS nicht bekannt war. Letzteres betraf auch Frauen in den Außenlagern.
Viele schwule Männer waren ausschließlich aus dem Grund im Konzentrationslager, dass sie Männer liebten. Es befanden sich unter den als homosexuell geltenden Häftlingen aber auch Straftäter, die sexuelle Gewalt gegenüber Minderjährigen ausgeübt hatten. Auch in ihrem Fall war die KZ-Einweisung ein Verbrechen.
„In Buchenwald waren die Homosexuellen bis zum Herbst 1938 auf die politischen Blocks aufgeteilt, wo sie ein ziemlich unbeachtetes Leben führten. Im Oktober 1938 kamen sie geschlossen in die Strafkompanie; sie mussten im Steinbruch arbeiten. Damit gehörten sie gerade in den schwersten Jahren der niedrigsten Kaste des Lagers an. Bei Transporten in Vernichtungslager wie Nordhausen, Natzweiler und Groß-Rosen stellten sie im Verhältnis zu ihrer Anzahl den höchsten Prozentsatz, da das Lager immer die verständliche Tendenz hatte, weniger wichtige und wertvolle oder als nicht wertvoll angesehene Teile abzuschieben.“
ABGELEITETE MACHT: DAS SYSTEM DER FUNKTIONSHÄFTLINGE
Die SS zwang Funktionshäftlinge, sie beim Betrieb des Lagers zu unterstützen. Lager- und Blockälteste wachten über die Lagerordnung, „Kapos“ und Vorarbeiter beaufsichtigten und trieben die Häftlinge bei der Arbeit an. Sie erhielten dafür besseres Essen oder auch bessere Kleidung.
Die Übernahme eines Funktionspostens konnte die eigenen Überlebenschancen erhöhen, erforderte aber die Zusammenarbeit mit der SS. Manche Funktionshäftlinge nutzten ihre von der Willkür der SS abhängige Macht, um Mithäftlingen zu helfen. Andere waren als brutale Schläger gefürchtet. Überlebende berichten auch von sexuellen Übergriffen durch Kapos.
Rosa-Winkel-Häftlinge erhielten nur selten Funktionsposten. Eine Ausnahme war das KZ Mittelbau-Dora. Hier betraute die SS mehrere als homosexuell kategorisierte Häftlinge mit Funktionsposten – vermutlich aufgrund ihrer Sprachkenntnisse: Die SS war zur Kommunikation und Organisation auf deutsche Funktionshäftlinge angewiesen.
„Der Block mit seiner Belegung stellt eine kleine nach Vorbild der Nazis in der Rangfolge abgestufte Welt dar. Ganz oben steht der Blockälteste, der mit Knüppel in der Hand alle Anordnungen trifft. Ihm untergeordnet sind Schreiber und Stubendienst, die den Stamm der Gesellschaft bilden. Er hat Macht über sie; sie haben Macht über uns. Die Masse wird von den einfachen Häftlingen gestellt, wie wir es sind.“
„Sie haben Macht über uns.“ Bericht von Charles Sadron, 1947. (Charles Sadron, A l’usine de Dora, in: Témoignages Strassbourgois, Strassbourg 1947)
Charles Sadron war Physiker an der Universität Strassbourg und wurde 1944 als Mitglied der Résistance nach Buchenwald und von dort aus nach Mittelbau-Dora deportiert.
„Im KL [Konzentrationslager] wurden diese Gegensätze von der Führung eifrigst aufrechterhalten und geschürt, um so ein festes Zusammenschließen aller Häftlinge zu verhindern. Nicht nur die politischen, auch besonders die farbigen Gegensätze spielten dabei eine große Rolle. Keiner noch so starken Lagerführung wäre es sonst möglich, Tausende von Häftlingen im Zügel zu halten, zu lenken, wenn diese Gegensätze nicht dazu helfen würden. Je zahlreicher die Gegnerschaften und je heftiger die Machtkämpfe unter ihnen, umso leichter läßt sich das Lager führen. Divide et impera! – ist nicht nur in der hohen Politik, sondern auch im Leben eines KL ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Faktor."
„Divide et impera!“ Teile und herrsche. Bericht des ehemaligen SS-Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höß, 1946. (Rudolf Höß, Martin Broszat (Hg), Kommandant in Ausschwitz, München 1964)
Mit der Vergabe privilegierter Funktionsposten und der Kennzeichnung der Häftlinge nach Haftkategorie versuchte die SS, die Lagerbelegschaft zu spalten. Seinen Bericht „Kommandant in Auschwitz“ schrieb Höß 1946 in polnischer Haft. 1947 wurde er hingerichtet.
SEXUALITÄT IM KONZENTRATIONSLAGER
Im Konzentrationslager herrschte grenzenlose Gewalt. Das betraf auch die Sexualität. Es liegen darüber aber nur wenige Quellen vor – auch, weil nur wenige Überlebende später über das tabuisierte Thema berichtet haben.
Sexualität gab es in den Konzentrationslagern in verschiedenen Formen. Einvernehmlichen Beziehungen zwischen Häftlingen standen verschiedene Formen sexueller Gewalt gegenüber. Diese wurde sowohl von der SS als auch von Mithäftlingen ausgeübt.
Buchenwald und Mittelbau-Dora waren weitgehend Männerlager. Sexuelle Handlungen waren somit meistens gleichgeschlechtlich. Eine Ausnahme stellten die Lagerbordelle dar, die in beiden Lagern errichtet wurden. Hier wurden weibliche Häftlinge zum Sex gezwungen.
„Ich erfuhr, dass in Block 8 an die 100 Jungen lebten, meistens Polen und Russen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren. Einige von ihnen dienten einflussreichen Lagerpersönlichkeiten ganz öffentlich als ‚Puppenjungen‘.“
Thomas Geve berichtet von sexuellen Beziehungen zwischen Funktionshäftlingen und jugendlichen Häftlingen im KZ Buchenwald, 1958. (Thomas Geve, Geraubte Kindheit. Ein Junge überlebt den Holocaust, Konstanz 2000)
Mit 16 Jahren kam Thomas Geve 1945 aus Auschwitz nach Buchenwald. Einige Funktionshäftlinge, die eigentlich nicht homosexuell waren, pflegten sexuelle Kontakte zu jungen Gefangenen. Diese Jugendlichen wurden im Lagerjargon „Puppenjungen“ genannt. Die komplexen Beziehungen basierten auf einer Mischung aus Gewaltandrohungen und Versprechungen sowie tatsächlichen Verbesserungen der Lebensqualität im Lager. 1958 veröffentlichte Geve ein autobiografisches Buch über seine Kindheit im KZ.
„Der Sex unter den Männern in Buchenwald war stark gewesen. Nun haben sie den rosa Winkel gesehen und gedacht: ›Ah‹ Mein Benehmen war irgendwie feminin und wahrscheinlich hat das die Männer angezogen. Und wo ich hingegangen bin, dort bin ich freundlich empfangen worden. Da war der Kapo, der Blockwart, der Arbeitskapo und der aus dem Schweinestall, wenn ich zu dem gekommen bin, habe ich immer gutes Essen bekommen. Und alle anderen haben mir etwas zugesteckt. Natürlich hat das die SS nicht wissen dürfen, das ist alles heimlich gegangen, auch was wir miteinander getrieben haben. Das war so Mode und Sitte in Buchenwald, dass Männer untereinander auch geschlechtlichen Verkehr hatten.“
„In Buchenwald war es üblich, Geschlechtsverkehr zu haben. Das war normal, das ist überall wo Kasernierung ist, aber ich bin nie äh homosexuell gewesen, aber das hat/ ich hatte einen jungen Franzosen, mit dem ich befreundet war, das war auch wieder ganz streng verboten, aber jeder hat‘s gemacht, da waren wir in den Trümmern des Gustloff-Werks, wo ich gearbeitet habe in irgendeiner Ecke war man also, um Gottes Willen, das wir nicht erwischt wurden, aber wir haben uns immer mal zurückgezogen und haben da also, irgendwie bisschen schnell schnell schnell.“
Das war normal“. In einem anonymisierten Zeitzeugeninterview spricht ein ehemaliger Buchenwaldhäftling über heimlichen homosexuellen Geschlechtsverkehr im KZ Buchenwald, 2014. (Interview: Florian Zabransky, Gedenkstätte Buchenwald)
Gleichgeschlechtliche Sexualität war in Buchenwald zwar streng verboten, fand im Geheimen aber trotzdem statt. Eine homosexuelle Identität verneint der Befragte jedoch, nach seiner Befreiung verkehrte er wieder mit Frauen.
„Führt die Unterernährung dazu, daß die primitive Triebhaftigkeit, die den Lagerhäftling im zweiten Stadion seiner inneren Anpassung an das Lagerleben ergreift, den Nahrungstrieb in den Bewußtseinsvordergrund rückt, so erklärt wahrscheinlich hauptsächlich diese Unterernährung auch die Tatsache, daß der Sexualtrieb im allgemeinen schweigt[…] Und auch in den Träumen der Häftlinge tauchen sexuelle Inhalte fast niemals auf.“
„…daß der Sexualtrieb im allgemeinen schweigt“. Der Psychologe Viktor Frankl widmete dem Thema Sexualität im KZ einen kurzen Abschnitt in seiner frühen Studie, 1946.(Viktor Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe überlebt das Konzentrationslager 2000)
Der aus Österreich stammende Neurologe und Psychiater Viktor Frankl überlebte das KZ Buchenwald und schrieb 1945 den Erfahrungsbericht „Ein Psychologe überlebt das Konzentrationslager“. Nach seiner Auffassung sei der Sexualtrieb im Lager nicht mehr vorhanden gewesen. Die Berichte von anderen Häftlingen widersprechen dieser Aussage jedoch.