Unfassbar – Ivan Ivanji ist tot. Wie so oft nach seiner Befreiung als Häftling der nationalsozialistischen Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald war er am vergangenen Samstag trotz seiner 95 Jahre noch von Belgrad nach Weimar gereist. Wie so oft, um Zeugnis zu geben, aus einem seiner zahlreichen Bücher zu lesen und um endlich die lange erwartete Eröffnung des Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora zu begleiten, am 8. Mai 2024, dem 79. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus. Keine drei Tage nach seiner – nun letzten – Lesung im Deutschen Nationaltheater Weimar; keine 24 Stunden, nachdem er mit strahlendem Lächeln zusammen mit weiteren Überlebenden das rote Band vor dem Museum Zwangsarbeit durchschnitten hatte, das im ehemaligen Gauforum in Weimar untergebracht ist, dem einstigen Dienstsitz von Fritz Sauckel, NSDAP-Gauleiter und als Generalbevollmächtigter für den Einsatz von 20 Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Deutschland und den von ihm besetzten Ländern; wenige Stunden nach einem Tag voller freundschaftlicher Gespräche und bewegender Interviews, ist Ivan Ivanji für immer gegangen.
Ivan Ivanji ist 1929 im Königreich Jugoslawien, im Banat, im heutigen Zrenjanin, geboren worden. Sein Vater und seine Mutter, säkulare Juden, die in Deutschland Medizin studiert hatten, praktizierten dort, wie schon sein Großvater. Seine Jugend verbrachte er im von der Vielfalt unterschiedlicher nationaler Herkünfte, Kulturen und Sprachen geprägten Banat. Zu Hause sprach man deutsch, ungarisch, serbisch und, wenn die Eltern etwas sehr Persönliches austauschen wollten, auch Latein. Diese Vielfalt hat Ivan Ivanji Zeit seines Lebens als Bereicherung beschrieben, die ihn ebenso wie seine Deportation im Mai 1944 und die Gefangenschaft in den KZ Auschwitz und Buchenwald für immer geprägt haben. Völkischer Nationalismus, kulturelle Hybris, Ressentiments gegenüber Menschen anderer Herkunft, anderen Glaubens, anderer politischer Überzeugungen waren ihm fremd. Was für ihn zählte, waren praktizierte Mitmenschlichkeit und Solidarität in Anerkennung der Würde eines jeden Menschen auf dieser Erde. Was für ihn zählte, war die Sicherung eines jeden und einer jeden vor Ausgrenzung, Ausbeutung und rassistischer Entmenschlichung. Nie eröffnete Ivan Ivanji eine Rede mit dem üblichen „Meine Damen und Herren“, sondern immer mit „Liebe Mitmenschen“. Sein Publikum im Deutschen Nationaltheater am vergangenen Montag hat er mit dem Satz verabschiedet: „Danke, dass sie gekommen sind. Ich spreche gerne mit Menschen, die ich nicht kenne.“
Nach seiner Befreiung im Buchenwalder Außenlager Langenstein-Zwieberge bei Halberstadt am 11. April 1945 – hier hatten Häftlinge ein unterirdisches Stollensystem für die Rüstungsproduktion, für die Junkers Flugzeugwerke, schaffen müssen – ist Ivan Ivanji im Alter von gerade 16 Jahren nach Jugoslawien zurückgekehrt. Dort waren seine Mutter und sein Vater bald nach dem deutschen Einmarsch 1941 ermordet worden. Nur seine Schwester, die nach Auschwitz und Bergen-Belsen verschleppt worden war, hatte wie er überlebt. Nach einer technischen Ausbildung – er hatte zunächst mit dem Gedanken gespielt, Architekt zu werden – begann Ivan Ivanji bereits in den 1950er-Jahren Gedichte zu schreiben. Bis heute sind mehr als ein Dutzend Romane und unzählige Artikel in serbischen, deutschen und österreichischen Medien erschienen, zuletzt „Der alte Jude und das Meer“ (2023) und „Corona in Buchenwald“ (2021). Geschrieben hat er auf Deutsch und auf Serbisch. Gerade abgeschlossen hatte Ivan Ivanji seinen nun letzten Roman: „Die Einsamkeit der Minderheit“. Wie in einem Brennglas fasst der Titel sein lebenslanges Engagement zusammen. In seiner Rede für den 75. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds 2020 heißt es dazu: „Im Rahmen des Gedenkens an den Holocaust wurde immer wieder betont, wie wichtig es sei, Minderheiten zu schützen. Gemeint waren damit meist die Juden. (…) Tatsächlich breitet sich der Antisemitismus wieder aus. (…) Allerdings möchte ich gerade als Jude betonen, nicht wir sind die einzige Minderheit, die geschützt werden muss. (…) Ich bitte Sie inständig, schenken sie alle ihre Empathie denjenigen, die heute verfolgt werden, fliehen, an Grenzen geschunden werden, in Lagern hungern und darben, im Meer ertrinken. Sagen Sie nicht, das sind andere Umstände, andere Lager, diese Leute haben andere Gründe vor Gefahren zu fliehen (…), wo auch immer, suchen Sie keine Beweggründe bei Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, ihr Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das bitte ich auch im Namen der Shoah.“
Ivan Ivanji hat nicht nur geschrieben. Er war außerdem stellvertretender Generalintendant des Nationaltheaters in Belgrad (1969 – 1974), Botschaftsrat für Kultur an der jugoslawischen Botschaft in der Bundesrepublik (1974 – 1978), Berater des Jugoslawischen Außenministeriums (1978 – 1981) und Generalsekretär des Jugoslawischen Schriftstellerverbandes (1982 – 1988). Als Dolmetscher Titos hat er die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre begleitet und beobachtet, u. a. in Gestalt der KSZE-Gründungskonferenz in Helsinki 1975. Übersetzen war für ihn ein elementarer menschlicher Akt der Verständigung und des Brückenbauens. Günther Grass, Bertolt Brecht, Max Frisch, Heinrich Böll und viele andere hat er ins Serbische übertragen, oder besser ins Serbo-Kroatische. Er trauerte um die Zerstörung „unserer gemeinsamen Sprache“, durch ultranationalistische Kultur- und Sprachpolitik nach den blutigen Zerfallskriegen im ehemaligen Jugoslawien.
Ivan Ivanji, der Ehrenbürger der Stadt Weimar ist und Träger des Thüringer Verdienstordens (und zahlreicher weiterer Ehrungen, aber diese waren ihm als Wahlweimarer und Buchenwalder am wichtigsten), hat Weimar als seine zweite Heimat betrachtet. Hier fühlte er sich Goethe und dem Humanismus der deutschen Klassik, hier fühlte er sich seinen Mithäftlingen, hier fühlte er sich den Ambivalenzen und Brüchen in der deutschen Geschichte, in der Geschichte des 20. Jahrhunderts besonders nah. Hier – und nicht nur hier – sah er es als seine Pflicht an, mit aller Kraft dazu beizutragen, aus diesen Brüchen und Erfahrungen politisch gewollter, gesellschaftlich mitgetragener Gegenmenschlichkeit zu lernen. Seine Leiderfahrungen, seine Todesangst hat er nicht verschwiegen. Auf den Status eines Opfers wollte er sich jedoch nie reduzieren lassen. „Am großen Wettbewerb, wer besser wehklagen, gräulicher seine Leiden beschreiben kann“, wollte er, wie er sagte, nicht teilnehmen. Geflissentlicher Erinnerungsrhetorik oder Mitleidsbekundungen stand er skeptisch gegenüber. Dass das „Nie wieder!“ nach 1945 vielfach hintergangen worden ist und hintergangen wird, war ihm schmerzlich bewusst. Gerade weil er ein Freund Deutschlands war und die deutsche Kultur hochschätze, hat ihn, der auch die Aushöhlung der Demokratie in Serbien immer wieder aufs schärfste öffentlich kritisierte, zuletzt große Sorge um Deutschland umgetrieben. Er habe nicht geglaubt, sagte er wiederum zum Befreiungstag 2020, dass Neonazis „hier in Deutschland (…) wieder die Macht übernehmen.“ Und er fügte hinzu: „Für unvorstellbar kann ich es nicht mehr halten. Als ob ich in meinem Heimatland Serbien nicht an Grauen genug hätte, beobachte ich die Entwicklung hier im Lande, wo das Lager Buchenwald stand, mit Besorgnis, mit Schrecken. Es ging ja nicht nur um Thüringen, nicht nur um Deutschland, ich fürchte, es geht um die Idee der parlamentarischen Demokratie und alles ist im Wandel. Alles.“
Ivan Ivanji war – und bleibt – unser Freund, Mutmacher und Ratgeber. Er hat gezeigt, was es heißt, dem politisch gewollten Hass, dem Ausgrenzen und Morden nicht das letzte Wort zu lassen. Seine Bücher bleiben. Darunter befindet sich auch eine literarisch gefasste Beschreibung und Reflexion seines Lebens: „Mein schönes Leben in der Hölle“ (2014). Sie sei jedem ans Herz gelegt, der diesen außergewöhnlichen Menschen und sein Engagement kennenlernen will.
Ivan Ivanjis Nachlass befindet sich in der Gedenkstätte Buchenwald. Das Gespräch mit Ivan Ivanji muss nicht verstummen. Sein Vorbild muss nicht mit ihm schwinden. Wir sind sehr traurig und doch voller Freude, diesen Menschen gekannt und mit ihm zusammengewirkt zu haben. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie, seinen beiden Kindern, Enkelinnen und Enkeln und den Urenkelkindern. Wie sagte er einmal bei einer Buchenwaldfeier in Hitlers ehemaliger „Heimstatt in Weimar“, dem Neubau 1936/37 des traditionsreichen Hotel Elephant: „Hitler ist tot. Wir leben noch. Soll er sich ärgern und im Grab umdrehen.“ Dabei soll es bleiben.
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
Volkhard Knigge, Stiftungsdirektor von 1994 bis 2020,
Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor