Die Befreiung vom Nationalsozialismus im Mai 1945 bedeutete nicht das Ende der Ausgrenzung und Verfolgung von Homosexuellen. Die Alliierten strichen etliche NS-Gesetze, nicht aber die verschärfte Fassung von § 175. Auch die 1949 gegründete Bundesrepublik beließ es bei der nationalsozialistischen Fassung des Paragrafen. Erst 1969 wurde er abgemildert und 1994 endgültig gestrichen. In der DDR galt von Beginn an eine weniger repressive Fassung von § 175.
Jahrzehntelang bemühten sich die Überlebenden der nationalsozialistischen Schwulenverfolgung vergeblich um Anerkennung als NS-Verfolgte. Die meisten wurden nie rehabilitiert und erhielten nie Entschädigungszahlungen.
Mit Lockerungen im Strafrecht erkämpften sich selbstorganisierte Homosexuelle ab den 1970er Jahren mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft und stritten für ihre Rechte. Im wiedervereinigten Deutschland traten nach der Streichung von § 175 neue Ziele in den Vordergrund, z.B. die Ehe für alle.
BUNDESREPUBLIK: FORTGESETZTE KRIMINALISIERUNG UND DER KAMPF UM RECHTLICHE GLEICHSTELLUNG
Da die NS-Fassung von § 175 in der Bundesrepublik unverändert in Kraft blieb, galten während des Nationalsozialismus verurteilte Homosexuelle weiterhin als Straftäter. Zudem setzten Polizei und Justiz die strafrechtliche Verfolgung fort. Wer seine Homosexualität offen auslebte, riskierte neben gesellschaftlicher Ausgrenzung auch eine Haftstrafe. Bis 1969 ermittelten die Behörden aufgrund von § 175 gegen circa 100.000 Personen. Etwa 50.000 wurden verurteilt.
Homosexualität entsprach nicht den von den Kirchen geprägten Sexualvorstellungen. Im Laufe der 1960er Jahre gewannen liberalere Kräfte in Politik und Gesellschaft an Einfluss. 1969 wurde § 175 reformiert. Homosexualität bei über 21-Jährigen wurde straffrei. Vier Jahre später senkte der Gesetzgeber das Schutzalter auf 18 Jahre. Durch die Liberalisierung konnten sich homosexuelle Gruppen nun besser organisieren. Sie erkämpften sich selbstbewusst ihren Platz in der Öffentlichkeit und traten für ihre Rechte ein.
„Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz. Auch auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens fordert die Gesellschaft von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln; Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und mißbilligt.“
Begründung in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, 10. Mai 1957. (BVerfG, 1 BvR 550/52)
Zwei Männer hatten wegen ihrer Verurteilung nach § 175 wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Beschwerde ab und bezeichnete § 175 in seiner von den Nationalsozialisten verschärften Fassung als rechtmäßig und verfassungskonform.
GRENZEN DER GLEICHBERECHTIGUNG IM SOZIALISMUS: HOMOSEXUALITÄT IN DER DDR
Die 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik sah den Nationalsozialismus in ihrem Staat als überwunden an und ehrte fast ausschließlich ehemalige politische KZ-Häftlinge als antifaschistische Widerstandskämpfer. Ehemaligen Rosa-Winkel-Häftlingen hingegen wurde der Status „Opfer des Faschismus“ nicht zuerkannt; sie erhielten keine Opferrenten.
Gesellschaftlich waren Homosexuelle als vom traditionellen Geschlechterbild abweichende Personen zudem diskriminierte Außenseiter. Rechtlich bestand für sie jedoch eine andere Situation: 1950 kehrte die DDR, im Gegensatz zur Bundesrepublik, zur liberaleren Gesetzgebung der Weimarer Republik zurück. Sie urteilte, dass die Verschärfung von § 175 nationalsozialistisches Unrecht gewesen ist. 1968 strich das Justizministerium den Paragrafen gänzlich aus dem Strafgesetzbuch. Erst mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erhielt § 175 von 1990 bis 1994 wieder Gültigkeit in den neuen Bundesländern.
ZU SPÄT: DIE ENTSCHÄDIGUNG UND REHABILITIERUNG VON HOMOSEXUELLEN NS-OPFERN
Weder in der alten Bundesrepublik noch in der DDR wurden Opfer der Homosexuellen-Verfolgung im Nationalsozialismus rehabilitiert oder entschädigt. Auch beim öffentlichen Gedenken an die NS-Opfer wurden sie in beiden deutschen Staaten weitgehend ausgeklammert.
Heute erinnern in Gedenkstätten und auf öffentlichen Plätzen einige Denkmale und Gedenktafeln an die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus. Ihre Existenz verdanken sie meist dem langjährigen Engagement von Schwulen- und Lesbeninitiativen.
Erst 2002, ergänzt 2004, beschloss der Deutsche Bundestag die Rehabilitierung der nach § 175 im Nationalsozialismus Verurteilten. Die Urteile wurden pauschal aufgehoben. Entschädigungsleistungen kamen für die meisten der mittlerweile verstorbenen NS-Verfolgten aber zu spät. 2017 trat das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem Krieg wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen in Kraft.
UMKÄMPFTES GEDENKEN
Jahrzehntelang wurden die Opfer der nationalsozialistischen Homosexuellen-Verfolgung im offiziellen Gedenken in Deutschland und weltweit verschwiegen. Erst in den 1970er Jahren begann sich das zu ändern. Schwulen- und Lesbeninitiativen erinnerten in der Bundesrepublik mit Flugblättern und auf Demonstrationen an die Verfolgung von Homosexuellen durch die Nationalsozialisten. Ab den 1980er Jahren nahmen erste Ausstellungen in der Bundesrepublik und in der DDR das Thema auf.
In den KZ-Gedenkstätten entstanden in dieser Zeit erste Denkmäler für homosexuelle NS-Opfer. Fast alle verdanken ihre Existenz dem hartnäckigen Engagement von Aktivist:innen, die den Staat und die Kommunen drängten, endlich auch der Rosa-Winkel-Häftlinge zu gedenken. Als 2008 in Berlin das zentrale Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen eingeweiht wurde, waren fast alle Betroffenen bereits verstorben. Debatten über die Erinnerung an verschiedene Gruppen und Einzelpersonen, die von der homophoben NS-Verfolgung betroffen waren, prägen das umkämpfte Gedenken bis heute.
„In Gedenken aller lesbischen Frauen und Mädchen im Frauen-KZ Ravensbrück und Uckermark. Sie wurden verfolgt, inhaftiert, auch ermordet. Ihr seid nicht vergessen.“
Inschrift der offiziellen Gedenkkugel für die ermordeten lesbischen Frauen im KZ-Ravensbrück, 30. Oktober 2022. (gedenkkugel-ravenbrueck.com)
UND HEUTE?
Die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen wurden erst nach langem Ringen um gesellschaftliche Anerkennung rehabilitiert und als Opfergruppe anerkannt. Der Bundestag schaffte den Strafrechts-Paragraf 175 im Jahr 1994 endgültig ab. Niemand muss in Deutschland fürchten, inhaftiert zu werden, weil sie oder er Menschen gleichen Geschlechts liebt.
Hass und Gewalt gegen Lesben, Schwule und Trans-Personen sind jedoch weltweit nach wie vor Alltag, auch in Deutschland. In etlichen Ländern werden queere Menschen brutal verfolgt. In Staaten wie Ungarn, Polen und Russland wurden in den letzten Jahren homophobe und LGBTQ*-feindliche Gesetze verabschiedet. Die Islamische Republik Iran vollstreckt jedes Jahr Todesurteile gegen Homosexuelle.
Gleichheit vor dem Gesetz und Schutz vor Hass und Gewalt bleiben für queere Menschen fast überall auf der Welt ein bislang nicht erreichtes Ziel.
„Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur, wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur, wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft. Und wir müssen wehrhaft werden!“
Björn Höcke (AfD) auf einer Kundgebung in Erfurt, 18. November 2015. (https://www.youtube.com/watch?v=dvFJiPv93gc, abgerufen am 29.11.2022)
„Ich könnte einen homosexuellen Sohn nicht lieben. Ich werde da nicht scheinheilig sein. Ich würde es vorziehen, dass mein Sohn bei einem Unfall ums Leben kommt, als dass er hier mit einem Typen mit Schnurrbart auftaucht.“
Jair Bolsonaro, 2019 bis 2022 Präsident von Brasilien, im Gespräch mit der Zeitschrift Playboy, 2011.
„Natürlich können Schwule und Lesben zunächst einmal nichts für ihre Krankheit und niemand darf sie dafür verurteilen, doch eine Krankheit sollte nicht zur gesellschaftlichen Normalität erhoben werden, sondern den Betroffenen sollte Hilfe angeboten werden.“
Dieter Blechschmidt, CDU-Stadtrat in Plauen (Sachsen), April 2012. (queer.de).
„Ideologie steht auch hinter der politischen Förderung bestimmter Forschungszweige wie etwa der ‚Gender-Forschung‘. Es ist die Überzeugung der Thüringer AfD, dass die Etablierung von Pseudowissenschaften ein Kennzeichen totalitärer Regime, nicht aber freiheitlicher Gemeinwesen ist. Daher fordern wir die Abschaffung von als Wissenschaft getarnten Ideologieprogrammen, namentlich der ‚Gender-Forschung‘, an den Thüringer Hochschulen.“
Programm der AfD Thüringen zur Landtagswahl 2019, 18. September 2019. (https://www.afd-thueringen.de/programm/, S. 36)
Artikel 3
- Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
- Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
- Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Grundgesetz, Artikel 3 in der aktuellen Fassung vom 15. November 1994.
Initiativen im Bundestag, Absatz 3 durch den Zusatz „wegen seiner sexuellen Identität“ zu ergänzen, blieben bislang erfolglos. Der letzte Satz in Absatz 3, der sich auf Menschen mit Behinderung bezieht, wurde 1994 hinzugefügt.